Seltsame Geschöpfe #1

 

Madame Chikolewa

 

von

Jan Gardemann

 

 

 

 

I M P R E S S U M

 

Madame Chikolewa

von Jan Gardemann (Autor)

 

© 2013 Jan Gardemann

Alle Rechte vorbehalten

 

Herstellung: Federheld.com

Inhaber: Jan Gardemann

Gänsekamp 7

29556 Suderburg

 

Titelgestaltung: Stefan Guhr

Titelbild: Luisa J. Preissler, Klaus Scherwinski

Lektorat: Uwe Helmut Grave

 

 

Vervielfältigung und Nachdruck des Textes und des Covers (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors gestattet.

 

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse und die genannten Personen sind fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten und real existierenden Personen wäre rein zufällig und ist unbeabsichtigt.

 

 

Vorwort

Episode 1.1 Madame Chikolewa

1.1.1

1.1.2

1.1.3

1.1.4

1.1.5

1.1.6

Episode 1.2 Juri Winogradow

1.2.1

1.2.2

1.2.3

1.2.4

1.2.5

1.2.6

1.2.7

1.2.8

Vorschau

 

 

 

 

Vorwort

 

 

Diese E-Book Serie mischt Fantasy und Horrorelemente mit dem Thrill moderner Krimis.

Jan Gardemann ist ein erfahrener Serienautor und blickt auf fast 30 Jahre Berufserfahrung als Unterhaltungsschriftsteller in den Genres Krimi, Mystik, Horror, SF und Lovestorys zurück. Mit Seltsame Geschöpfe präsentiert er eine nie da gewesene Romanserie voller überraschender Wendungen und fantasievoller Kreationen.

Seltsame Geschöpfe ist eine Romanserie, deren Handlung hauptsächlich in Russland angesiedelt ist. Sie erzählt die Geschichte des deutschen Europol-Ermittlers Bernd Johnson und schildert seinen verzweifelten Kampf gegen die Seltsamen Geschöpfe.

Menschenähnliche Kreaturen, mit übernatürlichen Fähigkeiten, die in Russland seit Jahrhunderten verdeckt ihr Unwesen treiben, haben sich im ganzen Land ausgebreitet – im Schutz der Intoleranz, die zur Zeit der Sowjetrepublik gegenüber Religion herrschte. Über ihre Vergangenheit und Herkunft ist bisher nur wenig bekannt …

Die einzelnen Folgen sind in sich abgeschlossen und bauen locker aufeinander auf.

 

Weitere Informationen:

www.jangardemann.de

www.Federheld.com

 

Und nun viel Spaß beim Lesen!

 

 

 

 

Episode 1.1 Madame Chikolewa

 

 

1.1.1

Manche Stadteile in Moskau wirkten so heruntergekommen und verwahrlost, dass man Lust bekam, die Häuser mit einer Planierraupe in Schutt und Asche zu legen, um Platz für Neubauten zu schaffen – so jedenfalls sah Boris Karmanow die Sache. Er selbst wohnte in einem Palast auf dem Kutusowski-Prospekt, nicht weit vom Kreml entfernt, und empfand eine tiefe Abscheu für alles, was mit Armut, Elend und Schwäche zu tun hatte.

All diese unnützen Attribute wurden nach seinem Dafürhalten in dem Stadtteil vereint, den aufzusuchen er sich in dieser Nacht auferlegt hatte.

Die Häuser im nördlichen Gebiet von Krasnosel’skyi waren über hundert Jahre alte Arbeiterbehausungen. Ihrem Äußeren nach zu urteilen hatte man sie das letzte Mal wohl vor fünfzig Jahren notdürftig saniert. Putz und Farbe blätterten von den Fassaden. Die einglasigen Fenster waren staubblind und wiesen nicht selten Risse und Sprünge auf. Wären die am Straßenrand parkenden Kleinwagen mit ihrer modernen Ausstattung nicht gewesen, man hätte sich leicht ins vergangene Jahrhundert zurückversetzt fühlen können, in eine Zeit, da Moskau noch die Hauptstadt der Sowjetunion gewesen war.

Boris hielt sich gern in der Gesellschaft der Reichen und Wohlhabenden auf, denn dort gehörte er seiner Meinung nach hin. Er liebte die pompösen Bälle, die in den Villen und Palästen Moskaus abgehalten wurden, und er redete bei diesen Anlässen mit Vorliebe über die Kultur seines Landes, über die Komponisten, die Russland hervorgebracht hatte, über russische Dichter und Philosophen und insbesondere über die Maler.

Umso unbehaglicher fühlte er sich jetzt, im Schatten eines baufälligen Erkers, der über ihm aus der bröckeligen Fassade einer Mietskaserne ragte.

Die Straße, in der er sich aufhielt, wurde auf beiden Seiten von Wohnblocks gesäumt. Sie sahen so schäbig und heruntergekommen aus, dass es Boris nicht gewundert hätte, wäre eines der Gebäude plötzlich unter lautem Getöse in sich zusammengestürzt, um all die armen Schlucker, die darin hausten, unter einem Berg aus Trümmern und Schutt gnädig zu begraben.

Boris schüttelte sich. Aber nicht etwa, weil er unter seinem langen Cashmeermantel fror oder weil er sich wegen der Einsturzgefahr der baufälligen Häuser um die Bewohner sorgte. Vielmehr bereitete ihm die Vorstellung Unbehagen, durch einen dummen Zufall in dieser finsteren Gasse erkannt zu werden. Auf der nächsten Lustbarkeit würde man sich über ihn das Maul zerreißen, weil er in einem Stadtteil gesehen worden war, der hauptsächlich von Prostituierten, Drogenabhängigen und Asozialen bevölkert wurde.

»Was hat Karmanow dort wohl zu suchen gehabt?«, würden sich die Leute hinter vorgehaltener Hand zu Recht fragen. »Ob er über eines dieser billigen Mädchen gestiegen ist? Oder hat er sich Drogen beschafft?«

Boris schnaufte verächtlich, um den fiktiven Klang des Lachens aus seinem Kopf zu vertreiben, das die Kostgänger ihren idiotischen Lästereien folgen lassen würden. Natürlich wäre keiner dieser Dummschwätzer mit seinem beschränkten Vorstellungsvermögen in der Lage gewesen, sich auch nur annähernd auszumalen, was Boris wirklich in diesem Stadtteil wollte.

Das hätte er an deren Stelle auch nicht vermocht, musste er unumwunden zugeben. Der Grund seines Aufenthalts in der Srednayaya-Pereyaslavskaya-ulitsa war so haarsträubend, dass er selbst kaum glauben konnte, den Fuß unter diesen Voraussetzungen in den verhassten Stadtteil gesetzt zu haben.

Und doch war er hier.

Boris vergrub seine rechte Hand in der Manteltasche und zog einen Notizzettel hervor, stark verknittert, da er ihn schon oft mit der Faust umschlossen hatte.

Eine Adresse war darauf notiert. Obwohl Boris die Notiz auswendig kannte, verglich er die Zahl auf dem Zettel akribisch mit der Nummer auf dem Emailleschild, das auf der anderen Straßenseite an der Fassade eines Wohnhauses angebracht war. Das verwitterte Schild hing neben einer schmutzigschwarz lackierten Tür im Souterrain. Ein paar ausgetretene Stufen endeten direkt vor der Schwelle.

Die Nummer auf dem Zettel und die auf dem Schild stimmten überein. Auch der Straßenname war identisch.

Boris Karmanow schüttelte grimmig den Kopf und fragte sich zum wiederholten Mal, warum keiner seiner Männer dieses Haus hatte finden können. Stattdessen waren sie, Stunden nachdem Boris sie losgeschickt hatte, in seinem Büro erschienen und hatten ihm mit niedergeschlagener Miene mitgeteilt, sie könnten das Haus mit der angegebenen Nummer in der Srednayaya-Pereyaslavskaya-ulitsa nirgends entdecken.

Wütend presste Boris die Kiefer aufeinander und zerknüllte den Zettel abermals in seiner Faust.

Er hatte drei seiner besten Leute losgeschickt, und keiner hatte dieses verlotterte Haus angeblich entdecken können – vor dem er nun stand! Wenn es ihm, Boris Karmanow, auf Anhieb gelungen war, das Haus ausfindig zu machen, warum war es dann den dreien nicht geglückt?

Hatten sie sich etwa gegen ihn verschworen? Bahnte sich in seiner Organisation eine Revolte an, ein Machtwechsel an der Spitze des Kunstraub-Syndikats, das er vor fünfzehn Jahren von seinem inzwischen verstorbenen Vater übernommen hatte?

Boris hielt alles für möglich. Trotzdem würde er wohl auf eine Bestrafung der drei Männer verzichten, nicht, weil er ein Nachsehen mit ihnen hätte oder gar befürchtete, durch eine Strafaktion den Unmut seiner Leute hervorzurufen. Nein, es hing mit den Worten zusammen, die Thomas Lewkos während des letzten Arbeitstreffens geäußert hatte …

»Du musst Madame Chikolewa schon persönlich aufsuchen, wenn du ihre Dienste in Anspruch nehmen willst, Boris«, hatte er erklärt und geheimnisvoll dabei gegrinst. »Andernfalls wird ein Kontakt niemals zustande kommen. Sie gehört zu den Seltsamen Geschöpfen, die sich, im Schatten des von den Sowjets verordneten Atheismus, im Gebiet der ehemaligen Sowjetrepubliken ungestört haben ausbreiten können – und die nicht selten übernatürliche Kräfte besitzen.«

Boris hatte den Mann verständnislos angestarrt und sich gefragt, ob ihn dieser fette Kerl, dessen sündhaft teurer Anzug wie die Hülle einer kurz vor der Häutung stehenden Schlange über seinem Bauch und an den Oberarmen spannte, nur mal kräftig veralbern wollte.

Doch Boris kannte Thomas Lewkos seit vielen Jahren und wusste, dieser würde sich niemals über seine Geschäftspartner lustig machen. Lewkos musste tatsächlich von der Existenz der Seltsamen Geschöpfe überzeugt sein, von denen Boris auch schon aus anderem Munde erfahren hatte. Bisher hatte er das Gerede über die übernatürlichen Wesen, die sich zu Sowjetzeiten angeblich in den Republiken etablieren konnten, allerdings für baren Unsinn gehalten.

Dass nun ausgerechnet Thomas Lewkos von diesen mystischen Wesen sprach, gab Boris zu denken. Und der Dicke hatte nicht nur über diese Kreaturen geredet – er hatte ihm, Boris, sogar empfohlen, eines dieser Geschöpfe aufzusuchen und anzuheuern!

Thomas Lewkos war ein Mann, an den man sich wandte, wenn man mit bestimmten Leuten bestimmte Probleme hatte. Diese Probleme lösten sich dann ziemlich rasch, weil derjenige, der sie heraufbeschworen hatte, zumeist plötzlich spurlos verschwand.

Manchmal, wenn der Kunde dies so wünschte, wurde die Leiche des Querulanten aber auch irgendwo in Moskau entdeckt, zugerichtet auf eine Art und Weise, die unmissverständlich darauf hindeutete, dass der Tote vor seinem Ableben höllische Qualen durchlitten hatte damit alle, die sich mit diesem Burschen eingelassen hatten, die Warnung verstanden.

Von einem soliden zuverlässigen Geschäftsmann wie Thomas Lewkos, das wusste Boris mit unumstößlicher Sicherheit, waren keine halbgaren Behauptungen oder Scherze zu erwarten. Wenn Lewkos sagte, Boris solle wegen seines Problems Madame Chikolewa persönlich aufsuchen, war es, wie er jetzt erkennen musste, sinnlos, seine engsten Vertrauten loszuschicken anstatt selbst mit der Frau Kontakt aufzunehmen.

Boris’ Widerwille, diesen schäbigen Stadtteil zu betreten, war so groß gewesen, dass er sie lieber zu sich in den Palast bestellt hätte – mochte sie nun ein Geschöpf sein oder nicht. Doch das hatte sich als unmöglich herausgestellt. Dass seine Leute in der Srednayaya Pereyaslavskaya-ulitsa nicht hatten fündig werden können, und dass Madame Chikolewa keinen Telefonanschluss besaß und auch im Internet nicht erwähnt wurde, hätte jeden anderen von ihrer Nichtexistenz überzeugt. Nicht aber Boris Karmanow, denn für ihn war eine Falschinformation aus Lewkos’ Mund undenkbar. Wenn dieser Berufsmörder behauptete, bei Madame Chikolewa würde es sich um ein Seltsames Geschöpf handeln, das man persönlich aufsuchen müsse, um ihre Dienste in Anspruch zu nehmen – dann entsprach das auch der Wahrheit! Basta!

Oder es zeugte davon, dass dieser Fettsack langsam anfing, den Verstand zu verlieren.

Wie sich nun herausstellte, gab es die von dem Killer erwähnte Adresse tatsächlich.

Die Seltsamen Geschöpfe verstanden es offenbar, sich vor den Sowjets zu verbergen. Und anscheinend bereitete es ihnen auch keine Schwierigkeiten, die Handlanger eines Gangsterbosses an der Nase herumzuführen. Dass seine Leute versagt hatten, war demnach sein Entscheidungsfehler gewesen, und darum durfte er sie nicht bestrafen. Das verbot ihm seine Ganovenehre.

In der Gasse gab es nur wenige funktionierende Straßenlaternen; ihre Lichtinseln waren weit gestreut und sorgten kaum für Helligkeit. Von oben sickerte ein fahles Schimmern in die Straßenzeile. Es rührte von der tief hängenden Wolkendecke her, die von den Lichtern der Stadt erhellt wurde und wie flüssiges Blei aussah, das zäh über den Himmel hinwegfloss.

Das Licht spiegelte sich auf dem Blech der am Straßenrand parkenden Fahrzeuge und ließ die Müllsäcke neben den Eingängen der Mietshäuser matt aufschimmern. In den Schatten huschten Ratten, die sich am Unrat gütlich taten.

Verdrossen ließ Boris den Blick schweifen. Nur wenige der ihn umgebenden Fenster waren erleuchtet – sie stierten wie die Augen von unter Gelbsucht leidenden Patienten stumpf und nichtssagend aus den Fassaden. Von irgendwoher drang der Lärm einer Musikanlage herüber: vermutlich der Song einer russischen Punkband, der sich aber eher wie Baulärm anhörte. Ein Betrunkener brüllte und eine Frau kreischte. In der Ferne bellte ein Hund.

Dies alles wurde untermalt von den allgegenwärtigen Geräuschen des Stadtverkehrs, der in Moskau auch um diese nachtschlafende Zeit nicht ruhte. In der Luft hing der Gestank von Müll und Schimmel, der Boris fast den Atem raubte.

Der Gangster spürte, dass er nicht mehr zögern durfte. Wenn er noch eine Minute länger unschlüssig in dieser Gasse herumstand, würden sein Ekel und sein Abscheu so übermächtig werden, dass er auf dem Absatz umkehren und sich eilig davonmachen würde. Ob er sich später noch einmal dazu überwinden könnte, den Stadtteil aufzusuchen? Das bezweifelte er stark. Dann würde er wohl eine andere Problemlösung finden müssen …

… falls das überhaupt möglich war.

Boris hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um der ärgerlichen Angelegenheit Herr zu werden – und es war ihm nicht gelungen. Umso wichtiger war es, dass er nun endlich in Aktion trat!

Er gab sich einen Ruck und überquerte die Straße. Mit trippelnden Schritten eilte er die drei ausgetretenen Stufen zur Souterrainwohnung hinab und stand schließlich vor der Tür mit der Hausnummer sieben.

Die Fenster, die zu Madame Chikolewas Wohnung gehörten, waren von innen mit schwarzer Lackfarbe angemalt, doch der Anstrich war fahrig ausgeführt worden. Der Pinsel hatte Streifen in der Lackschicht hinterlassen, durch die ein rötlicher Schimmer nach außen drang.

Vergeblich suchte Boris nach einer Klingel. Schließlich ballte er die Faust und schickte sich an, gegen das Türblatt zu trommeln.

In diesem Moment schwang die Tür mit lautem Knarren auf, und ein kleinwüchsiger, krummbeiniger Mann stand vor ihm.

Ein Grinsen umspielte die Lippen des Gnoms. Er trug einen braunen Cordanzug und darunter einen schwarzen Rollkragenpullover. Das halblange Haar hatte er sich hinter die Ohren gestreift, die fast rechtwinklig von seinem Kopf abstanden und sogar am Schädel eines Zweimeterhünen noch zu groß gewirkt hätten.

»Haben Sie sich endlich dazu durchgerungen, uns mit Ihrem Besuch zu beehren?«, fragte er respektlos, wobei er das Kunststück vollbrachte, beim Reden das Grinsen beizubehalten. »Sie wären nicht der Erste, der den Mut nicht aufbringt und unverrichteter Dinge wieder abzieht.«

Boris starrte den Gnom finster an. Anscheinend hatte dieser Bursche ihn beobachtet, während er im Schatten auf der anderen Straßenseite gestanden hatte und seinen Gedanken nachgehangen war.

»Ich möchte Madame Chikolewa sprechen«, sagte Karmanow barsch.

Das Grinsen auf dem Gesicht seines Gegenübers vertiefte sich noch. »Dass Sie keine Unterredung mit mir zu führen wünschen, hätte ich mir fast denken können.«

Boris wollte zu einer scharfen Erwiderung ansetzen, doch der Zwerg trat nun einen Schritt beiseite und winkte ihn herein – wobei Karmanow befremdet feststellte, dass dessen »Winkarm« viel länger als der andere war.