Buchcover

Paul Keller

Ulrichshof

Roman

Saga

Erstes Stück

1. Kapitel

Es fiel einmal ein Kinderherz ins Gras . . .

Das alte Holztor liess einen leisen Wehruf hören. Was hatte dieses Tor schon zusammengeklagt in seinem langen Leben. Über hundert Jahre war es alt. Der Tischler Christian Siel hatte es einmal aus Buchenholz gefertigt. Als das Tor in der Friedhofmauer hing, starb der Tischler Siel. Er war der erste, der durch seine Friedhofspforte hineingetragen wurde. Ganz in der Nähe hatten sie ihn begraben. Das Tor sah auf seinen Hügel, und wenn in der Nacht der Wind ging, klagte es und rüttelte an den eisernen Bändern, mit denen es an die Wand gefesselt war, als wollte es diese Fesseln sprengen und allen, die da begraben lagen, die Auferstehung von den Toten verkündigen, ihnen den Weg freigeben zurück ins Leben. Nach fünfundzwanzig Jahren hatten sie den alten Siel ausgegraben. Der Totengräber hatte eine Knochenhand betrachtet, die noch ganz war. Mit dieser Hand hatte Siel die Friedhofspforte geschaffen, die Bretter behobelt und zusammengefügt, sie mit brauner Farbe bestrichen. Nun stand der Totengräber in der Grube, die er geschaufelt hatte, und betrachtete die Knochenhand, die noch ganz war. „Ach“, sagte er, „alter Christian! Mit dieser Hand hast du mich einmal derb verprügelt, als ich in deinem Garten auf Apfeldiebstahl aus war. Du warst ein starker und zufassender Mann, Christian. Ich nehm dir’s jetzt nicht mehr übel — das von damals. Und zum Zeichen dessen will ich dir diese Hand schütteln.“

Da zerfiel die Hand. „O weh, nun ist die Hand zerfallen; nun bist du freilich kein Tischlermeister mehr, Christian. Ach du lieber Gott, was ist das für ein trauriges Leben und für ein trauriges Amt, Leute zu begraben und auszugraben, die man gekannt hat. Jetzt, Christian, kommt nun dein Sohn in diese Grube. Gestern ist er gestorben, der Ehrenfried. Kommt in deine Grube, wie halt der Sohn das Bett des Vaters erbt.“

Dieser Totengräber war schon lange tot, das wusste das Tor, und ein neuer Totengräber war gekommen, der war auch schon tot, und den Ehrenfried Siel hatten sie nach weiteren fünfundzwanzig Jahren auch ausgegraben und in sein und seines Vaters Bett den Ulrich Siel gelegt.

Das alles wusste das Tor; eine solche Friedhofspforte erlebt mehr als mancher gelehrte Mann und kennt die grosse Weisheit, dass hartes Buchen- und Eichenholz viel länger hält in Sturm und Wetter als Menschenblut und Nerven. Der jüngste Siel hatte jetzt an dem Tore herumgeflickt. Das war wie eine Operation gewesen, und das alte Tor wusste, dass nicht lange nach einer Operation das Sterben kommt. So würde das Tor bald sterben, und man würde ihm kein christliches Begräbnis gönnen in gesegneter Erde, obwohl es lange Wache gestanden hatte an so vielen Gräbern. Man würde es dem Feuertode überantworten. Es gibt nur ein undankbares Wesen auf der Erde, das ist der Mensch.

Das Tor hatte leise gewehklagt, weil ein alter Herr es zu ungewohnter Zeit geöffnet hatte. Etwa fünfzehn Schritte ging der Alte, die Hände auf die Schösse seines altmodischen Gehrocks gelegt, vorsichtig, auf leisen Sohlen. Nach den fünfzehn Schritten blieb er stehen und nickte wehmütig mit dem weissen Kopfe.

„Ich dachte es mir, es ist heute der Todestag.“

Über einen Grabhügel langhingestreckt lag ein Kind, ein Mädchen von vielleicht dreizehn Jahren. Man sah nicht, ob es weine oder bete. Vielleicht war es besinnungslos, denn es lag ganz ohne Regung. Es zuckte auch nicht zusammen, als der alte Herr näher kam und nun ein wenig lauter auftrat.

„Brigitte! — Brigitte, hörst du mich nicht?“

Das Kind regte sich nicht. Da fasste der Alte das Mädchen sanft an der Hand und zog es empor. Das Mädchen sah ihn mit verweinten Augen gross und verwirrt an und fröstelte in sich, presste die Hände auf die Brust und zog die Schultern zusammen.

„Lass mich, Tobias, lass mich bei der Mutter!“

Tobias schüttelte traurig den Kopf.

„Das Wetter ist kühl! Ich bitte dich, Brigitte, komm mit mir heim! Du weinst und frierst dich krank.“

Er umfasste sie, aber das Mädchen riss sich los und warf sich wieder auf das Grab.

„Meine Mutter — meine Mutter!“

Jetzt stand der Alte still. Er regte sich nicht; hörte ein wehes Weinen irgendwoher, sah in grautrübes Licht, durch das kein Strahl der Hoffnung rann. Dann raffte er sich auf.

„Komm heim, Brigitte!“

Er zog sie abermals empor.

„Brigitte, ich weiss ein Gedicht, das passt auf dich und deine Mutter. Soll ich es dir aufsagen, hier an ihrem Grabe?“

Das Kind antwortete nicht. Nach einer Pause fragte der alte Herr abermals:

„Soll ich es dir nicht aufsagen?“

Das Mädchen antwortete auch jetzt noch nicht; aber endlich sprach es leise:

„Sag’s!“

Da sprach der alte Herr mit schöner, warmer Stimme:

„Es fiel einmal ein Kinderherz

Ins Gras,

Ins Gras, darunter seine Mutter schlief.

Da kam ein Englein, rief:

Gras, Gras, Friedhofsgras,

Mach es nicht mit Tränen nass,

Es ist der Rand von Gottes Wiese,

Es ist der Rand vom Paradiese,

In einem wunderschönen Garten

Wird die Mutter auf dich warten.“

Das Mädchen schmiegte sich an den Alten.

„Hast du es verstanden, Brigitte? Dieses Gras, in das du weinst, gehört schon zum Paradiese, es ist der fernste Rand von Gottes Wiese, es sieht aus dem Jenseits aus der Erde hervor, dieses Gras sagt, dass wir Menschen nicht vergessen sollen, wo unsere Toten sind.“

Das Mädchen flüsterte:

„Es ist ein schönes Gedicht.“

„Ich habe es dir abgeschrieben, Brigitte — mit Rundschrift, und es selber eingerahmt; es hängt über deinem Bette. Kommst du jetzt mit mir?“

Das Kind beugte sich noch einmal über den Hügel, strich mit der Hand über das Friedhofsgras und sagte: „Der Rand von Gottes Wiese!“ — Dann richtete es sich auf und sagte: „Komm!“

*


Das alte Tor jammerte, als die beiden hindurchgingen, und dann waren sie wieder draussen im Leben. Freilich war das „Leben“ hier auf der Landstrasse, die von der Kreisstadt nach Dorf und Gut Ulrichshof führte, nur ein geringes. Aber mit grossem Gepolter kam ein leerer Lastwagen die mässig abfallende Chaussee herunter. Der Kutscher stand, hieb auf die schweren Pferde ein und schrie: „Hallo! Hallo! Wettschnellfahren mit Kartoffelwagen; Rekord breche ich — Rekord. Hallo! Hallo!“

Tobias dachte: Es ist unser Jakob Kabiczek, der Oberschlesier. Er hat wieder getrunken in der Stadt. Ob er wohl heute seine Alte prügelt? Die kräftige Frau Kabiczek hatte dem Doktor Tobias vor einer Woche geklagt: „Bin ich unglückliche Frau! Jakob mir untreu, macht sich nichts mehr aus mir. Hat mich schon sechs Wochen lang nicht mehr gehau’n. Aus ist!“

Wohl wollte dem alten Tobias ein leises Lachen ankommen über solch eheliches Verhältnis und solche Kennzeichen von Liebe und Treue, aber seine Gedanken kehrten bald zurück zu dem traurigen Kinde an seiner Seite.

„Du siehst blass aus, Brigitte. Seit einem Jahr hast du gewiss nicht ein Pfund zugenommen. Das soll nicht sein bei einem dreizehnjährigen Mädchen. Du musst Honig essen, Brigitte, immer reinen Honig, der geht ins Blut, der heilt alles Kranke.“

„Ich mag keinen Honig.“

„Brigitte, ehe die Krankheit deiner Mutter kam, hat sie alle Tage Honig gegessen, und als ihr noch kleiner waret, Julius und du, hat euch die Mutter jeden Tag mit Honig gefüttert. Erinnerst du dich dessen nicht mehr?“

„Ja, jetzt erinnere ich mich. Wir hatten eine weisse Honigdose aus Porzellan, da war ein Bienenkorb darauf gemalt. Ich werde jetzt alle Tage Honig essen. Was Mutter tat, war immer gut.“

Die Chaussee stieg nun wieder bergauf, und Jakob Kabiczeks Rekordfahrt hatte ein Ende gefunden. Das langsame Knarren seines Kartoffelwagens klang nur undeutlich aus der Ferne.

Tobias räusperte sich, hustete dann und holte tief Atem. Man merkte ihm an, er wollte etwas sagen, was ihm nicht leicht fiel.

„Brigitte, ich glaube, dass es dir gar so schwer wird um die Mutter, das rührt von Julius her, der es dir so schwer macht.“

„Julius ist mein Bruder, ich habe niemand ausser ihm.“

„Und die Grossmutter?“

„Die Grossmutter ist freundlich — wenigstens zu Julius — aber sie ist Vaters Mutter.“

„‚Aber sie ist Vaters Mutter‘, das hast du von Julius. Es ist nicht dankbar von euch Kindern gegen die gute alte Frau, wenn ihr so seid.“

Das Mädchen schwieg, und in ihr weiches Gesicht kamen jetzt Zeichen des Trotzes.

Nach einer Weile sagte Tobias:

„Und ich? Was bin ich für euer Leben? Gar nichts als eben nur der Mann, der eure Schularbeiten nachsieht?“

„Du bist unser bester Freund! Du bist unser einziger Freund, Tobias, das sagt auch Julius.“

„Das zu hören, macht mich glücklich,“ sagte der Alte leise und bewegt. Nach einer Weile lachte er ein wenig, schüttelte Brigitte am Arm und sagte: „Rat mal, Brigittchen, was der Julius für eine Note auf seine Klausurarbeit in Latein bekommen hat?“

„Mangelhaft!“

„Hoho! Ganz daneben geraten. ‚Gut‘ hat er bekommen. Nur einen halben Fehler hat er gehabt. Haha, die neuen Pädagogen rechnen mit halben Fehlern, halben Prozenten. Die sind Knauser. Nur einen halben Fehler!“

„Dann wird er von Heinrich Martin abgeschrieben haben. Der sitzt neben ihm!“

„Nein, Heinrich Martin kann selber nichts. Eher hat Heinrich Martin von Julius abgeschrieben.“

„Dann hat ihnen der Sohn vom Pedell, mit dem sie Briefmarken tauschen, einen Tip gegeben, was drankommt. Das tut er manchmal. Julius sagt, der Pedell hat immer scharfe Augen, aber im Lehrerzimmer, wo manchmal Notizbücher herumliegen oder im Überzieher stecken bleiben, hat er hundert Augen wie der Gott Argus und eine flinke Hand im Nachschlagen und Abnotieren. Das sagen Julius und Heinrich Martin.“

Tobias freute sich, dass er das Mädchen etwas von seinen schweren Friedhofsgedanken hatte ablenken können. Er lachte und sagte:

„Oh, der Pedell ist einmal bei uns in Ulrichshof in der Schlossbrauerei gewesen, wo er herstammt, und da hat er geprahlt, er hätte schon zwei Schock Abiturienten durch das Maturium bugsiert, und eigentlich sei es nicht der Direktor, sondern er, der das Zeugnis der Reife bewirke. Das hat der Trinkkumpan in der Stadt weitererzählt, und da wäre es dem jugendfreundlichen Pedell beinahe an den Kragen gegangen. Aber er log sich mit totaler Trunkenheit seines Kumpans heraus, und der Direktor liess Milde walten. Wahrscheinlich hat er früher als Schüler selbst Durchstechereien gemacht. Haha! Wahrscheinlich — höchstwahrscheinlich.“

Das Mädchen war schon nicht mehr zur Hälfte bei dem lustigen Thema.

„Tobias, du hast doch auch studiert, warum bist du denn nicht auch Gymnasialdirektor geworden? Warum bist du bloss so bei uns?“

Tobias seufzte.

„Das kommt halt so! Jeder kann nicht etwas Grosses werden. Und ist es so schlimm, dass ich nur so bei euch bin?“

„Nein, nein, das ist gut!“

Sie stiegen nun die Chaussee bergan. Tobias musste manchmal stehenbleiben und etwas verschnaufen. Auf der Anhöhe, die den Namen „Die schöne Aussicht“ vom Volke erhalten hatte und auf der Brigittes Vater eine Ruhebank aus Eichenholz hatte errichten lassen, blieben sie halten.

„Setz dich“, sagte der asthmatische Tobias „setz dich neben mich, Brigitte. Das war ein böser, langer Anstieg!“

Er wischte sich den Schweiss von dem gelben Gesicht.

„Ich will stehen bleiben!“ sagte das Mädchen.

„Weil sie sich nicht auf die Bank ihres Vaters setzen mag“, brömmelte Tobias in sein Schnupftuch. „Das ist alles der Julius, der Julius, vielleicht auch dieser Heinrich Martin. Sie haben das Mädchen in der Gewalt.“

Es war wirklich eine schöne Aussicht von dieser Anhöhe, die über die Chaussee lief. Nördlich und südlich war stolzer Hochwald mit vorgelagerten freundlichen Wiesen; nach Osten und nach Westen hin war die Aussicht frei; zur Linken lag die Kreisstadt mit ihren vier Türmen und den vielen Häusern, die an zwanzigtausend Menschen Obdach gewährten. Man sah deutlich die Luisenhöhe, auf der sie einen Bismarckturm errichtet hatten. Eine Lindenallee führte hinauf. Im Sommer versteckten sich Liebespärchen hinter den dicken Bäumen, im Winter war dort die Rodelbahn. Da fuhr so mancher an die Bäume und brach ein Bein; einer hatte sich tot gefahren, weil er dem Mädel, das er liebte, zeigen wollte, wie forsch er sei.

Und zur Rechten lag Ulrichshof. Das Dorf war ein wenig dürftig, wie alle Dörfer, in denen durch Jahrhunderte Rittergüter waren. Diese armen Bäuerlein und Handwerksleute waren immer beim Löwen zu Gaste, der das Beste für sich nahm. Aber jetzt in der neuen Zeit hatte sich das Dorf recht herausgemacht. Sie hatten eine Chaussee, hatten elektrische Beleuchtung, einen eigenen Landjäger und auf dem Kirchturm drei sauber abgestimmte Glocken, auch wurden in manchen Häusern Zeitungen gehalten; ein Bauer, er blieb freilich der einzige, hatte sich im Laufe von zwei Jahrzehnten drei Bücher gekauft, und zwei andere Bauern besassen Rasierapparate. Das ist einiges, was zum Lobe des Dorfes Ulrichshof anzuführen wäre.

Hoch und herrlich aber ragte das Schloss des Rittersitzes empor. „Schloss“ musste man sagen, denn „Herrenhaus“ wäre zu wenig gewesen. Der Mittelflügel hatte zwanzig Fenster Front, die Seitenflügel, die sich stumpfwinklig anschlossen, deren je zehn; ein mächtiger Turm überkrönte das Ganze. Ein altes Feudalgeschlecht hatte dieses Schloss erbaut, erweitert, gepflegt, bewohnt. Von den Tagen der Kurfürsten an war hier vornehmes, höfisches Leben gewesen mit Schmaus und Trank, Jagd und Spiel, mit Liebesabenteuern, Duellen, Intrigen, geheimen Abmachungen, mit Abwechselungen zwischen Lärm und rohem Gelächter und andererseits zierlicher „Courtoisie“ und gelehrten „Disputen“. Das Feudalgeschlecht hatte seinen reichen Besitz im Laufe der Jahrzehnte vertan, und seine Mitglieder waren in die schmale Futterweide königlicher Beamten- und Offiziersstellen gekommen. Gut und Schloss waren dann durch verschiedene Hände gegangen, an Menschen geraten, die für die mächtigen Rahmen nicht die entsprechenden Porträts liefern konnten und schliesslich immer froh waren, wenn sie den Besitz, der sie in seinen Ausmassen bedrückte, weiterverkaufen konnten. Jeder dieser Zwischenbesitzer aber hatte vor dem Weiterverkauf Acker- und Waldparzellen zu Gelde gemacht, auch fleissig Bäume schlagen lassen, ohne sich mit der vorgeschriebenen Neuaufforstung übermässig zu übereilen oder durch übertriebene Sorgfalt zu übernehmen, und so war das Gut schliesslich auf fünfhundert Hektar an Acker- und Waldbestand zusammengeschrumpft, ein Areal, das zu dem feudalen Herrensitz nicht im Einklang stand. Zuletzt hatte es ein Generalleutnant gekauft, der den Titel „Exzellenz“ führen durfte. Dieser Mann hatte als schon bejahrter Generalmajor das Herz einer Prinzessin entzündet, man hatte ihn schnell zur Exzellenz befördert, ihn und seine Frau dann ohne Rückfahrkarte nach Ulrichshof geschickt, wo das Paar sein Liebesglück in aller Stille und ganz unbehelligt durch höfische Kreise geniessen sollte. Nun, es war anfangs besser gegangen, als man gedacht hatte. Die Prinzessin gebar der Exzellenz nach einem Jahr einen strammen Sohn, einen kleinen Prachtbengel, und in der Freude seines Herzens lud der glückliche Vater eine Unmenge früherer Kameraden und Bekannter zur Taufe. Noch einmal schien die alte Herrlichkeit zurückgekommen zu sein, noch einmal war das riesige Haus erfüllt von Lachen, Tanz, Trinkgelächter und Liebesgeflüster, noch einmal galt die alte Parole: „Verschwendung“, aber schon drei Jahre später kam ein Teil dieser lustigen Gäste still und bedrückt wieder zum Begräbnis der Exzellenz. Deren kleiner Sohn Eberhard trug bei der Beisetzung seines Vaters die ersten Höschen.

*


„Wollen wir jetzt weitergehen, Brigitte?“ fragte von seiner Bank her der alte Tobias. „In einer reichlichen halben Stunde wird es Nacht werden.“

„Ja, wir wollen gehen!“ sagte das Mädchen. Sie hatte die ganze Zeit, während Tobias das Schloss betrachtete und über dessen Geschichte nachdachte, nach der anderen Seite geschaut, nach dem Friedhofe hin. Man entdeckte ihn sofort von weitem wegen der hohen Pappeln, die an seiner äusseren Mauerseite standen. Die Pappeln sind in ihrer Schlankheit und ihrer ernsten Art, aber auch in ihrer eigentümlich weichen, schwermütigen Stimmung die Zypressen des Nordens. Irgendeine Ratsverwaltung früherer Jahrzehnte hatte einmal die Anpflanzung der Pappeln am Friedhof angeordnet. Da hatte eine fein empfindende Seele gesagt: „Die Pappel ist der Baum des Schmerzes. Seht euch nur eine Pappel an, hört nur, wie klagend sie rauscht, und dann versucht zu lachen! Ihr könnt es nicht!“ Aber in späteren Jahren hatte ein anderer gesagt: „Man sollte die Pappeln am Friedhof ausroden. Auf die Stätte der Trauer soll man nicht weitere Schwermut bringen, sondern Licht und Trost. Birken pflanzt an, die wie weissgekleidete Mädchen sind, die seidene Haare haben wie die Himmelsjungfrauen und zärtliche Lieder singen wie die Bräute. Und auf alle Gräber legt Kränze aus roten Rosen oder aus brennenden Nelken oder aus freudigen Chrysanthemen.“

So denken und empfinden die Menschen verschieden und ereifern und begeistern und widersprechen sich, und wenn sie tot sind, ist ihnen alles gleichgültig.

Sie gingen nun die Strasse weiter, die sich sanft senkte. Im Herzen des Tobias ruhte die Frage: Warum ist der Schmerz dieses Mädchens so andauernd? Wenn ein Kind ein ganzes Jahr lang so tief und andauernd trauert, gibt das zu denken. Kinderschmerz um Tote zerschleisst viel rascher als das Trauerkleid, dann kommt die Sehnsucht nach einem farbigen Gewande; Kinderlust verwelkt mit dem Kranze auf dem Kopfe, dann kommt die Frage nach etwas Neuem; keine Stimmung hält bei Kindern lange an. Ja, die Brigitte war tief wie ein rätselhafter Waldsee, dessen Wasser niemand gemessen hat, und auch der Junge, der Julius, war tief, aber tief wie ein Abgrund, in den niemand schauen kann, ohne vom Schwindel erfasst zu werden. Das waren die Enkelkinder jener Prinzessin und jener alten Exzellenz.

„Von da unten herauf kommt Julius mit Heinrich Martin!“

Tobias rückte an seiner Brille; er sah niemand kommen. Zehn Minuten später trafen sie zusammen. Tobias fragte, ob Julius vielleicht noch nach der Stadt wolle zu seiner geheimen Schülerverbindung. „Nein, Toby, das kannst du dir wohl denken, dass ich heute nicht auf die Kneipe gehe, dass ich heute zum Grabe der Mutter will.“

„Jetzt, Julius? Gleich wird es Nacht sein. Es ist kein Mondschein!“

„Das ist die richtige Zeit, das richtige Wetter. Nacht muss es sein, wenn meine Sterne strahlen.“

Er sagte das abgeänderte Wallenstein-Zitat stolz, aber ziemlich theatralisch.

„Wenn du nun schon durchaus gehen willst, Julius, so will ich mit dir gehen. Wir sind gleich im Dorfe. Brigittchen springt den Schlossberg allein hinauf; sie hat flinke Beine.“

„Hältst du uns für Knaben, Toby? Wir sind siebzehn Jahre. In zwei Jahren haben wir das Maturum. Was brauchen wir eine Begleitung? Kannst du uns beschützen, Toby?“

„Nein“, sagte Tobias demütig; „du bist ja viel stärker als ich.“

*


Brigitte gehörten die drei Zimmer, die früher die Mutter bewohnt hatte: ein Rokokosalon, ein anstossendes Musikzimmer und ein Schlafzimmer. Die Räume waren zu weitläufig für ein dreizehnjähriges Mädchen, aber Brigitte hatte der Grossmutter innig gedankt, als sie diese Zimmer beziehen durfte. Vielleicht war es das einzige Mal, dass sie zu ihrer Grossmutter zärtlich war. Grossmutter aber hatte etwas brummig gesagt: „Schon gut, wer sollte diese Räume sonst benützen?“ Nun wohnte Brigitte in den Zimmern der Mutter. Alles war noch wie einst, da Mutter noch hier sass bei ihrer Handarbeit oder am Flügel oder am Harmonium oder in einem Buch las. An einem Fenster war ein zierlicher Rokokotisch weggerückt und dafür ein festerer Tisch mit einer grünen Decke hingestellt worden. An diesem Tische machten Brigitte und Julius ihre Schularbeiten; die Mutter sass schweigend dabei. Sie konnte viel. Selbst Julius, der doch schon in Untersekunda war, musste sie manchmal im Französischen um eine Auskunft bitten; auch Algebra verstand die Mutter. Nur Latein konnte sie nicht. Die lateinischen Arbeiten liess sich Julius von Tobias machen. Brigitte musste, wenn sie mit Zahlen zu tun hatte, diese Zahlen leise vor sich hinsprechen, sonst bekam sie die Rechnung nicht zustande. Einmal sagte Julius erbost zu ihr: „Still rechnen! Du dumme Gans störst mich!“ Diese Ungezogenheit verwies ihm die Mutter sanft, aber ernst. Da sprang Julius auf, umarmte seine Mutter so heftig, dass sie leise schrie, und bedeckte ihr ganzes Gesicht mit wilden Küssen. Dann ging er zurück zu seiner Arbeit und brummte leise, dass Mutter es nicht hören sollte, der Schwester zu: „Du bist doch eine dumme Gans.“ Aber Mutter hatte es wohl doch gehört. Sie schalt aber nicht mehr, sondern sprach ganz leise für sich hin: „Geschwister.“ Was die Mutter gemeint hatte, als sie gerade damals sagte: „Geschwister!“ wusste Brigitte noch heute nicht. —

Nun wurde es Nacht draussen. Der Himmel war voller Wolken, der Mond schien nicht, nur einige Sterne blinkten manchmal auf und versanken gleich wieder im nächtlichen Wolkenmeere. Der Wind ging. Jetzt würden Julius und Heinrich Martin beim Grabe der Mutter sein. Der Friedhof würde ganz schwarz daliegen, in den hohen Pappeln würde es schaurig rauschen, und das alte Holztor würde jammern.

Ob sich die beiden nicht fürchten würden so zu nächtlicher Zeit auf dem Kirchhof, wenn der Wind über die Gräber ging und die Pappeln so schaurig rauschten und die Grabkreuze und grauen Marmorsteine alle Geistermäntel umhatten? Nein, die fürchteten sich nicht, denn sie waren schon in Obersekunda.

Und dann — warum sollten sie sich fürchten; sie waren ja bei der Mutter. Bei der Mutter konnte sich niemand fürchten, denn sie war wie ein Engel Gottes. Brigitte fürchtete sich auch nicht, in diesen grossen, alten Schlossräumen allein zu sein. Sogar vor der geputzten Ahnfrau mit den strengen Augen, deren grosses Bild im Musikzimmer hing, fürchtete sie sich nicht, obwohl diese Ahnfrau Hofdame bei der gewaltigen Kaiserin Theresia gewesen war. Sie fürchtete sich nicht, in dem Bette zu schlafen, in dem ihre Mutter gestorben war. Nein, nein, es war ihr ja das liebste Bett der Welt. Wie oft war sie aus ihrem Kinderbettchen herausgeklettert und hatte sich zur Mutter gelegt in dieses Bett. Jetzt träumte sie manchmal, die Mutter käme ganz leise herein und huschte zu ihr unter die Decke.

Da hing wirklich das Gedicht, von dem Tobias auf dem Kirchhof gesprochen hatte, in zierlicher Rundschrift geschrieben und schön eingerahmt. Der gute Toby! Woher er nur das Gedicht hatte!

„Es fiel einmal ein Kinderherz

Ins Gras . . .“

Woher er das nur hatte? Sie wird das Gedicht zwei- oder dreimal lesen, und dann wird sie es im Herzen und in der Seele haben als einen schönen Trost.

*


Es klopfte deutlich an die Tür. Tobias war’s. Er schaltete rasch einige Lampen ein.

„Musst nicht so im Dämmern sitzen, Brigittchen! Seit wir auf dem Gute die eigene Wasserkraft ausnützen und die Turbinen haben, kommt es gar nicht darauf an, wieviel Lampen brennen.“

„Es ist ganz schön im Dämmerlichte, ich fürchte mich nicht.“

„Ja, ja, aber der Mensch ist ein Kind des Lichtes, Finsternis taugt nichts für ihn. ‚Die Nacht ist keines Menschen Freund‘, steht geschrieben. Hast du das Gedicht bei deinem Bette gefunden?“

Das Mädel eilte auf den Lehnstuhl zu, in dem Tobias sass, fasste ihn um den Hals und gab ihm einen herzhaften Kuss auf den Mund.

„Nun, nun“, sagte Tobias verlegen, „soviel ist das nicht wert! Aber wenn dir die paar Verse was nützen, will ich darüber froh sein.“

„Wo hast du denn das schöne Gedicht her?“

Tobias wurde noch verlegener.

„Ach, halt irgendwoher! Das tut nichts zur Sache. Um auf etwas Wichtiges zu kommen, Brigittchen: als ich heute nachmittag in deiner Schlafstube das gerahmte Gedicht anmachte, sah ich einen schwarzen Vorhang vor der Tür, die früher aus dem Schlafzimmer deines Vaters in das Schlafzimmer deiner Mutter führte. Wie kommt der Vorhang dorthin? Wer hat ihn angebracht?“

„Julius“, murmelte das Mädchen.

„Das dachte ich mir“, sagte Tobias. „Warum schwarz?“

„Ich wollte einen grünen, aber Julius wurde wieder wild, er sagte, es müsse ein schwarzer Vorhang sein. Da gab ich ihm die Hälfte des Preises von meinem ersparten Taschengelde, Heinrich Martin wollte auch beisteuern, aber Julius sagte, nein, das ginge ihn nichts an. Dann hat Julius den Vorhang in der Stadt gekauft und ihn mit Heinrich Martin angemacht in meiner Schlafstube, und ich habe nichts dagegen sagen dürfen.“

Ein Diener erschien und sagte, Hoheit wolle Herrn Julius, das gnädige Fräulein und Herrn Doktor sprechen. Herr Julius aber sei nirgends zu finden.

„Er ist nach der Stadt“, gab Tobias Bescheid.

„Komm mit zu Grossmama, Brigitte!“