1. Auflage 2017
Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert mit Mitteln des tschechischen Kultusministeriums.
Es gibt da diesen einen Satz. Vielleicht sollte ich mit ihm anfangen. Jeder, der schon
mal in Prag war, kennt ihn. Seit mehr als dreißig Jahren dieselbe Stimme, die uns
bittet, das Einsteigen und Aussteigen zu beenden. Und seit über dreißig Jahren ist
das auch mein Satz. Manchmal höre ich ihn bis in mein Wohnzimmer hinein. Manchmal
werde ich von ihm geweckt. Wenn die erste Metro des Tages gerade eingefahren ist.
Der Satz ist ein Versprechen. Ein Versprechen, das eingelöst wird. Hundertfach am
Tag, tief unter der Stadt. Da wohne ich. Im grünen Bereich. Ein Stück hinter der Metrostation
Jiřího
z Poděbrad. Auf der Linie A. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört, in einer langen
Nacht in irgendeiner Prager Spelunke. Der Mann, der die Metro kennt wie niemand sonst.
Der Mann, dem die Metro ein Zuhause ist.
Die klaffenden Mäuler dieser Krake, die im Prager Untergrund ihre Glieder ausbreitet,
schlucken und speien jeden Tag anderthalb Millionen Menschen aus. Abertausende im
Minutentakt. Du irrst im eisernen Ungetüm durch die Tunnel, getragen von den Wellen
des menschlichen Gedränges und Gemurmels, aus einzelnen Wörtern und zerfetzten Sätzen
wird eine Melodie, du verstehst sie nicht, summst aber dennoch sofort mit und suchst
einen Halt auf dem in bunten Farben gemalten Plan. Drei Farben. Drei Richtungen. Drei
Generationen. Die Türen schließen sich, die Bahn fährt an. Der unvergessliche Sound
der Stadt unter der Stadt.
Vor über dreißig Jahren bin ich deshalb in den Untergrund gegangen. So hat man es
Ihnen in der Prager Spelunke erzählt. Aber geglaubt haben Sie die Geschichte nicht.
Einer, der im Tunnel lebt? Mit Wohnzimmer und echtem Bett? Und sie haben ihn nicht
rausgeworfen, den Jiří vom Jiřího z Poděbrad? Aber mir können Sie das ruhig glauben.
Es gibt mich wirklich. Sie müssen schnell sein, wenn Sie zu mir wollen. Zwischen zwei
Bahnen in den Tunnel steigen, sich nicht erwischen lassen, dann die erste Tür fest
aufdrücken, Notausgang, ganz fest, und dann ein Stück durch den finsteren Gang, erste
Tür rechts, zweite Tür links. Und Sie stehen in meinem Wohnzimmer. Eine komplette
Wohnung. Ein Zimmer, provisorisches Bad, Plastikblumen, Porzellan und ein riesiges
Bücherregal. Wenn ich nicht der Metro nachschaue, dann lese ich. Eine Zeit lang hatte
ich auch einen Fernseher, aber der ist mir zu langweilig geworden. Eine Zeit lang
hatte ich auch Ratten, aber denen ist es mit mir zu langweilig geworden.
Vor über dreißig Jahren bin ich in den Untergrund gegangen. Weil sie mich beruhigt,
die Metro, die minütlich an meinem, nennen wir es ruhig so, imaginären Wohnzimmerfenster
vorbeirumpelt, die gerade erst Fahrt aufnimmt auf dem Weg zum nächsten Halt. Was wäre
wohl passiert, wenn sie die Metro nie gebaut hätten? Wo würde ich heute leben? Vielleicht
in einer ausrangierten Straßenbahn. Aber das wäre nicht dasselbe. Das wäre einfach
nicht dasselbe.
Damals hielt man die Ingenieure für Fantasten, als sie die Idee einer Prager Untergrundbahn
ins Spiel brachten. Man lachte sie aus für ihre versponnenen Pläne. Eine Untergrundbahn
in Prag? Bei dem sandigen Boden? Und was ist mit dem Fluss? Diese Bahn wird es nie
geben. Tatsächlich sollte es von diesem Augenblick an noch einige Jahrzehnte und einige
historische Umwälzungen dauern, bis sich die ersten Wagen ihren Weg durch den Untergrund
bahnten. Am 9. Mai 1974 wurde die Prager Metro eröffnet.
Am Anfang, da fuhr sie nur wenige Meter tief. Mangelnde Erfahrung im Tunnelbau. Den
hat man aber ziemlich schnell erlernt. Die brauchten ja Bunker für den Ernstfall,
den es nie gab. So entstand im Laufe der Zeit nicht nur die tiefste europäische Untergrundstation
überhaupt, die den Frieden im Namen trägt, sondern auch ein ausgeklügeltes System
aus Tunneln und Gängen. Und dann kam die Samtene Revolution, und viele Stationen wurden
umbenannt, Lenin verschwand, und Moskau, die ganzen Fučíks und Gottwalds und mit ihnen
auch die Erbauer der neuen Welt und die Kosmonauten. Die prächtigen Orte da unten
hießen nun »Florenz« oder »Engel«. Wenn man ausstieg, roch es jedoch wie eh und je
nach Kohle und Malz, die Luft war trüb, die Straßen voller Dreck und in der Kneipe
an der Ecke wurde der Tag mit einem frisch gezapften Bier begrüßt. Die Namen änderten
sich, aber das Bier schmeckte genauso bitter wie immer. Aus der Küche roch es nach
verbrannten Zwiebeln und der alte Pianist stimmte wie aus dem Nichts den Brežněv-Blues
an. Das Lokal schwankte mit. Später dann kam die Flut. Und wieder wurde alles anders.
Mir hat es damals auch mein Hab und Gut weggespült. Ich habe geholfen, den Schlamm
zu schippen. Tagelang. Freiwillig. Und dann bin ich wieder eingezogen, in meine frisch
renovierte Bude unter der Erde.
Vor über dreißig Jahren bin ich also in den Untergrund gegangen. Und ich habe keinen
einzigen Tag davon je bereut. Es gibt Geheimnisse, die kennt niemand außer mir. Weil
die Planer des Systems längst unter der Erde sind, aber anders als ich. Hier vom Jiřího
z Poděbrad aus, zum Beispiel, dem Tor zur Hölle des legendären Kneipenviertels Žižkov,
führt ein Geheimgang. Das dürfen Sie aber niemandem erzählen, sonst kommen bald die
Touristen. Dieser Geheimgang, und das schwöre ich bei der Metro, führt direkt in den
Hinterhof des Planeten Žižkov. Das ist meine Lieblingskneipe. Da gehe ich hin, wenn
mir der Sinn nach Gesellschaft steht. Aber erst nach Mitternacht. Ich genieße es,
wenn sie mir nach dem zweiten, dritten oder vierten Bier meine eigene Geschichte erzählen.
Und dann sage ich: Ein Typ, der in den Tunneln lebt? Das gibt es nicht, das kann es
gar nicht geben. Denkt doch mal nach.
Vor Jahrzehnten bin ich in den Untergrund gegangen. Und vorher, da bin ich mit der
Metro gefahren, von morgens bis abends, ich saß da und schaute mir die Gesichter an,
von Endstation zu Endstation. In der roten Linie C, zum Beispiel, unter sandigem Grund
und unter Wasser. Denn Sie wissen ja bestimmt, dass die Metro auch unter dem Prager
Fluss fährt, der Vltava, der Moldau. Aber was Sie bestimmt nicht wissen: Man kann
den Fluss auch hören. Wenn man es schafft, auf die Sitzbank zu steigen und ganz unauffällig
sein Ohr an die Decke zu pressen, dann kann man es hören, das sanfte Schlagen der
Wellen. Und sogar die alten Karpfen, die leise die Moldau-Sinfonie summen.
Und die letzte Metro ist die schönste Metro von allen. In der letzten Metro, da ist
man melancholisch und will nicht, dass die Fahrt aufhört. In der letzten Metro, da
ist man oft verliebt und mit dem Kopf ganz woanders. In der letzten Metro, da bleiben
manchmal Gedichtbände liegen oder gleich ganze Romanmanuskripte. In der letzten Metro
bleibt nur noch die zufriedene Müdigkeit oder die müde Unzufriedenheit, es gibt keine
Fortsetzung mehr, denn die Geschichten des Tages sind geschrieben, die wir uns am
nächsten Morgen erzählen werden. Die letzte Metro gehört den Originalen. Gestalten,
die den Büchern entspringen könnten, die ich lese. Ich sehe die Gesichter nur kurz,
wenn die Bahn ganz langsam vorbeifährt oder vor meiner Haustür für einen Moment stehen
bleibt, und doch kommt es mir so vor, als würde ich ihre Geschichten kennen. Da war
zum Beispiel ein alter Herr mit Saxofon in der Hand, ich stellte mir vor, wie sie
ihn schon lebendig beerdigen wollten und wie er im letzten Moment doch noch aus dem
Sarg sprang. Da war diese Frau, die einen ganzen Kleiderschrank dabeihatte, und ich
malte mir aus, wie sie darin lebt. Da war dieser Mann, der trug ein neues Jackett
unter dem abgewetzten Mantel und hatte eine Kerze in der Hand, und ich stellte mir
vor, dass er ein Hotelportier aus der Kleinstadt ist, der die Kerze am Wenzelsplatz
anzünden will für seinen Helden, für Václav Havel, den Dichterpräsidenten. Da war
mal ein Kerl, der hatte tatsächlich seine Bergmannskluft an, und ich dachte mir, der
ist bestimmt gerade aus Ostrava hierhergekommen, um in der letzten Metro allen die
Geschichte von seiner schlimmsten Schicht unter Tage zu erzählen. Die letzte Metro
fährt nach Mitternacht, und dann ist sie weg, und dann ist es für Stunden still in
den Tunneln und Gängen des Prager Untergrunds. Wer die letzte Metro verpasst, der
muss eine Odyssee auf sich nehmen, der irrt mit Nachtbussen und Nachttrams durch die
schlafende Stadt. Wer die letzte Metro nicht kriegt, der kommt vielleicht gar nicht
mehr nach Hause. Der geht wieder in die Kneipe und bestellt ein Bier und dann noch
eins. Bis zum Anfang des neuen Tages, bis zum Ende der Nacht.
Wahrscheinlich bin ich wegen dieser letzten Metro überhaupt in den Untergrund gegangen.
Weil ich weiß, dass ich sie dort alle sehen kann, die anderen Verlorenen, die Einsamen,
die der Nacht und dem Bier entflohen sind. Manchmal, wenn die letzte Bahn des Tages
abgefahren ist, dann lege ich mich in mein Bett und träume von ihnen. Ich träume ihre
Geschichten weiter. Und dann geht es um die letzte Nacht in Freiheit. Dann geht es
um Paare, die sich aneinanderklammern wie Schiffbrüchige. Dann geht es um Tauben und
Mauersegler, die einander eigentlich nichts abgewinnen können, aber sich doch den
Himmel über uns teilen. Und einmal, ich weiß es noch genau, da habe ich von mir selbst
geträumt: Von diesem Typen, der im Seitenarm eines Tunnels der Prager Metro lebt und
von unten aus die Welt betrachtet, den jeden Morgen immer wieder derselbe Satz weckt,
den er dann hundertfach am Tag hören wird. Und er freut sich manchmal schon am frühen
Morgen wie ein Kind auf die letzte Metro. Auf all die Gesichter und Geschichten. Und
vielleicht geht er dann in die Kneipe und lauscht seiner eigenen Geschichte, die dort
wieder mal erzählt wird und die selbst nach dem sechsten Bier kein Mensch dort oben
glaubt.
Mein dritter Tag in der neuen Arbeit. Da kommt meistens die Krise. Ich sitze mit weiteren
zwanzig Menschen in einem Großraumbüro, niemand redet. Stattdessen wird gechattet.
Dutzende Tastaturen klappern, das zarte Klackern ist voller Emotionen, Gleichgültigkeit
wechselt sich mit Aufregung ab, wird zum lakonischen Schäkern, die Tastaturen schnurren,
mal lacht einer kurz auf, mal greift sich ein anderer an den Kopf. Mir, zum Beispiel,
schreibt in letzter Zeit immer Lenka. Allerdings am liebsten spät in der Nacht. So
piepst es mal um zwei Uhr nachts:
schlafen sie schon? Sie mag das Siezen. Ich tue so, als schliefe ich, und lese dann am nächsten Morgen:
es tut mir leid, ich war so einsam. Ich antworte, ich könne für Zerstreuung sorgen, am Abend zum Beispiel, wie wäre
es denn mit Schwimmen, Kino, Theater oder Eistanz, worauf sie erwidert, es sei sehr
lieb von mir, sie habe aber abends keine Zeit. Darauf folgen üblicherweise etwa fünf
Tage Ruhe.
In einer halben Stunde ist Feierabend. das war das schlimmste jahr meines lebens, es tut schon sehr weh, wenn man sich so
sehr um etwas bemüht und am ende wirds nichts. verstehen sie? nicht dass ich noch
vulgär werde, schreibt Lenka, ich packe zusammen, Rechner, Kamera, Handy, und ab an die frische
Luft. Feierabend.
ich fühl mich richtig elend …, piepst meine Hosentasche auf der Rolltreppe. Ich antworte nicht. Ich stehe an der
weißen Linie, starre in die Unendlichkeit des Tunnels, die muffige Luft zerzaust mein
Haar. Als Kind hatte ich oft einen Albtraum, ich stehe am Bahnsteig, und plötzlich
bricht Panik aus, alle rennen, in die Station fährt eine gepanzerte Militärmetro ein,
keine Fenster, nur Schießscharten, alles in mir schnürt sich zusammen, zum Abhauen
ist es viel zu spät, merke ich und wache auf. was machen sie heute abend?, piepst meine Tasche erneut, dann ist der Empfang weg. ich warte auf sie im cross, schreibe ich in der nächsten Station zurück.
Rundherum nur Rohre, einige enden in einem komisch angeleuchteten Gefäß, wo eine verdächtige
Flüssigkeit blubbert. Die Mädels an der Bar haben nur mäßigen Spaß, aber meinen Wein
kriege ich dennoch. Und den zweiten auch. Von der Decke blättern Wörter ab, aber nur
einige, das Wesentliche bleibt unausgesprochen. Ich notiere sie auf die Rechnung.
Zwischendurch piepst hin und wieder mein Handy. das war der schlimmste sommer meines lebens! und dann: ich schaffs heute abend wohl nicht mehr.
»Ich nehm noch einen und werd gleich zahlen.« Das nächste Wort fällt ins Glas.
nicht zu ende gesprochene sätze
bluteten aus an bars
röteten das meer
der straßenbahninseln
huschten durch schlafzimmer
und in allerletzter agonie der sinne
küssten sie den trunkenen
auf die schläfe …
Die Straßenbahn kommt gleich, und ich steige ein. Der Wagen stößt mit Kraft von der
Insel ab, die Stadt beginnt fröhlich zu blinken, die Schienen schwanken, und der Mond
strahlt auf die Ränder der Wolken. Der Typ gegenüber fängt meinen Blick und lässt
ihn nicht mehr los. Ich versuche ihn so nebenbei einzuschätzen. Leicht ergrautes Haar,
um die vierzig, schlechte Zähne, nach seiner Kleidung zu urteilen wohl ohne Frau,
ein gealterter Rocker vielleicht oder ein Hippie, den alle aus der Clique schon verraten
haben, doch er bleibt seinen Idealen – jeden Abend ins Jericho oder in ein ähnliches Loch – treu. Vorsichtig richte ich meinen Blick auf etwas anderes.
Da steht der Typ auf, setzt sich auf den Sitz vor mir und streckt mir seine Hand entgegen.
»Ahoj, ich bin Jirka. Schöne Kamera, eine Flexaret?«
Unsere Daumen verhaken sich. Jirka hat raue Hände, an zwei Fingern fehlt die Kuppe.
»Yashica«, antworte ich lustlos.
»Yashica, ach so, na, die hat schon ’ne bessere Linse.«
»Hmm.«
»Ich hab immer mit der Flexaret geknipst. Sag mal, kann ich dich was fragen?«
Ich schaue aus dem Fenster und spüre Druck auf der Blase. Jirka deutet es als Zustimmung.
»Haste zehn Kronen für mich?«
»Nein.«
»Dann sorry, Mann.«
Die Straßenbahn schaukelt hin und her, aber die Großstadt leuchtet plötzlich ganz
anders, irgendwie müder, irgendwie gedämpfter. Als wir Čechův most erreichen und über
die Brücke fahren, kommt mir wieder die gepanzerte Metro in den Sinn, mitsamt allen
Details der Ummantelung. Die ist zackig, vermutlich habe ich damals Zeichentrickfilme
von Karel Zeman geschaut.
»Geld kriegste nicht, aber ich lad dich auf ein Bier ein, im Rudolfinum«, sage ich zu meiner eigenenen Überraschung.
»Dein Ernst, Mann? Na, da sag ich nicht Nein. Danke, Mann!«, stimmt Jirka zu.
Die Kneipe ist ziemlich voll, ich halte mir die Möglichkeit zum schnellen Rückzug
offen. Wir platzieren uns auf den Barhockern gleich neben der Tür.
»Die Quadrate, was?« Jirka nimmt das Thema wieder auf und blinzelt immer wieder auf
die Kamera. »Kriegste überhaupt noch Filme dafür?«
»Bist du Fotograf?«
»Nein, um Gottes willen, da bin ich völlig raus. Aber früher hab ich mal Fotos gemacht,
ich hatte auch einen Vergrößerer und alles …«
»Und warum hast du das aufgegeben?«
»Wegen dem Saufen, alles wegen dem Saufen«, vertraut sich mir Jirka an. Ich zeige
dem Kellner zwei Finger. »Alles hab ich versoffen, selbst die Familie. Alles versoffen,
jetzt bin ich komplett raus. Den Sohn hab ich auch versoffen.«
»Und wovon lebst du?«, will ich wissen.
»Pfandflaschen und Sammeln, hauptsächlich«, erklärt Jirka redlich. »Papier, Bücher.
Meistens Antiquariat, manchmal nehm ich mir auch was mit in den Kabeltunnel.«
»Wohin?«
»Kabeltunnel. Heißwasserleitung. Ich hab da eine Stelle, da gibt’s sogar Licht, da
kann ich auch lesen.«
»Und wie lange bist du schon…?«
»… auf der Straße? Seit fünfzehn Jahren. Im Sommer in einem Zelt auf der Insel. Im
Winter im Kabeltunnel. Fünfzehn Jahre. Ich bin schon komplett raus.«
»Und dein Sohn? Siehst du den manchmal?«
»Ich hab den schon seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Außerdem, die Jungs würden
ihn dann eh nur auslachen, oder? Ich bin raus. Aber der Kleine kommt nicht nach mir,
er ist clever. Kennste das Goldene Glöckchen?«
»Nein.«
»Das Goldene Glöckchen. Da ist so ein Wettbewerb vom Rundfunk. Für junge Musiker.
Und er hat’s letztes Jahr gewonnen. Kennste das? Vom Rundfunk.«
Ich lade also auch noch Bill Gates auf ein Bier ein und klappe den Rechner auf. Free
WiFi gibt es hier, Kabeltunnel der Luft.
»Wie heißt er denn?«
»Na, wie ich. Hujer. Honza Hujer. Also Jan Hujer. Das Goldene Glöckchen. Vom Rundfunk.«
Google frisst alles und kurz darauf spuckt es ein Bild aus, das Foto eines schüchternen
blonden Jungen, Karohemd, kurze Ärmel, auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, in der Hand eine
Querflöte.
»Warte mal, das ist er! Das gibt’s doch nicht. Wir reden hier über ihn und … Guck
an, das ist Honza! Er hat den Wettbewerb gewonnen!«
Jirka schießt plötzlich hoch und der hölzerne Barhocker fällt zu Boden.
»Das ist doch Honza. Na, guck an …«, wiederholt er und schaut stumm auf den Bildschirm.
Dann winkt er ab, mit der Hand, an der ihm zwei Fingerkuppen fehlen.
»Na ja, Honza. Der ist geschickt. Nicht wie der Vater. Was haste noch so da? Haste
auch deine Bilder?«
»Ja, willst du sie sehen?« Ich trete von einem Fuß auf den anderen. Der Kellner bringt
uns zwei Bier.
»Aber hallo. Klar will ich sie sehen.«
Die Maus huscht durch eine Bierlache.
»Hier. Mit den Pfeilen kommst du weiter.«
»Das ist echt gut. Da hast du wohl Licht fotografiert. Aber es ist nicht nur das Licht,
es ist auch die Dunkelheit. Es ist diese Grenze da. Der Weg des Lichts und rundherum
die Dunkelheit. Umherirren. Mit dem Pfeil, ja?«
Ich nicke.
»Das hier gefällt mir auch. Der Typ schaut nach innen. Vielleicht ist er neugierig,
oder ihm ist kalt. Er würde gern hinein, er schafft es aber nicht. Dieses Tor da,
wie so eine Burg oder so. Er muss draußen bleiben. Aber das Fensterlicht lässt ihn
nicht los, und so steht er da und kann sich nicht bewegen. Sonst hättest du ihn auch
nicht knipsen können, in der Dunkelheit. Mit dem Pfeil, ja?«
»Ja.«
»Eine Frau, die durch die Stadt schreitet. Die Frau, von der du morgens träumst …
Und hier, diese Beine, kleine Blende, als würden sie fliegen … gutes Licht … vom Schatten
gejagt, vom eigenen Schatten …« Zuerst spricht Jirka mit mir, dann mehr und mehr nur
noch mit sich selbst. Er ist drin, ist eingetreten, läuft herum, grüßt alte Bekannte,
ab und zu drückt er die Pfeiltaste, um ins nächste Zimmer zu kommen, manchmal kehrt
er noch mal zurück, zu Bildern, die er schon gesehen hat, und begrüßt sie. Er ist
im Haus, in dem er einst gewohnt hat. Berührt seine Wände, untersucht es, nimmt sich
Zeit, genießt es …
Ich wippe nervös neben ihm, trete von einem Fuß auf den anderen. Der Kampf ist nicht
zu gewinnen. Der hört so schnell nicht wieder auf. In drei Minuten fließt das Bier
unten aus mir raus … verdammt. Ich kann ihm doch nicht den Firmenrechner dalassen.
»Und dieses kleine Mädchen hier an der Wand, Alice. Alice hinter den Spiegeln. Sie
betritt eine andere Welt, hier ist wichtig, dass die Wand kein Ende hat, aber es gibt
da einen Durchgang, der irgendwohin führt, wo du nicht hinsehen kannst.«
»Du, Jirka, sag mal …«
»Jaa, wie der Baum sich selbst anguckt im Spiegel …«
»Du, Jirka … Ich muss … Du passt auf meinen Rechner auf, ja? Ich muss pissen.«
»Klaro. Mit dem Pfeil.«
Ich renne die Treppe hinunter.
ich habe sie nicht mal gefragt, wie ihr tag war?, piepst es in meiner Tasche. Ich muss es mal ausschalten. Aber nicht dass hier Missverständnisse
entstehen, ich bin doch nicht unerreichbar! Ich bin hier, im Rudolfinum. Alles lebt und tobt hier. Ich atme den Geruch der Pisse ein, berühre den Putz, halte
meinen Schwanz, bald wasche ich mir die Hände und schaue nach dem Rechner. Ich bin
nicht unerreichbar. Ich stehe am Pissbecken.
nicht zu ende gesprochene sätze
wie kinderlose frauen
wahnsinnige bedeutungen
die nichts mehr tragen
Mir fällt noch ein, dass die gepanzerte Metro kein normales Licht hatte wie die Passagierwagen,
sondern nur einen großen Frontstrahler. Flutlichtscheinwerfer. Papiertücher sind aus,
ich trockne meine Hände an der Hose ab und steige voller Spannung wieder hoch zur
Theke. Für mich zwei Wochen Arbeit, für Jirka Einkünfte von einem Vierteljahr. Außerdem
ist ja sein Sohn da drin. Als ich oben ankomme, steht an unserem Platz ein Haufen
fremder Männer. Einer von ihnen, Pelz mit weißem Kragen, ein natürlicher Anführer,
den die anderen bei jeder Meinung, die sie äußern, schweigend um Zustimmung bitten.
Was allerdings, von außen betrachtet, nicht allzu oft vorkommt. Unsicher bewege ich
mich auf sie zu. Und dann höre ich wieder Jirkas Stimme: »Schaut euch diesen Hund
an: Er greift euch an, und gleichzeitig hat er vor euch Angst. Da ist beides drin.
Und man weiß nicht, ob er zubeißt oder wegrennt. Und das Bein, diese Komposition zum
Ast. Im Hund wie im Baum ist sie drin. Diese gefährliche Traurigkeit.«
Der Typ im Pelz nickt und zeigt mit dem Finger auf den Bildschirm. Die anderen Männer
brummen zustimmend, und ich schiebe mich zwischen sie.
»Das sind wunderschöne Bilder, mein Herr«, verkündet der Pelzmann feierlich.
»Ich selbst male ein wenig, in meinem Hotel habe ich eine, wie ich finde, sehr schöne
Galerie. Kommen Sie doch vorbei, wir werden uns bestimmt einigen können«, verabschiedet
sich der Hotelbesitzer und reicht Jirka seine Visitenkarte.
»Na, da sag ich nicht Nein. Danke.«
sind sie mir böse?, piepst es in meiner Tasche. Ich drücke den roten Knopf und halte ihn gedrückt, bis
das Handy ganz verstummt. Jetzt gibt’s ein paar Tage Ruhe.
Jirka trinkt sein Bier aus, dann schaut er mir in die Augen.
»Kann ich dich mal was fragen?« Ich starre in mein leeres Bierglas und spüre erneut
Druck auf der Blase.
»Haste zwanzig Kronen für mich?«
Der Fußboden unter Zbyšeks Füßen schaukelte ein wenig. Vorsichtig bewegte er sich
durch den Flur, er hielt sich an der Wand fest, scheute jedoch den Blick darauf, vom
grünlichen Anstrich war ihm nicht gerade wohl zumute. Dann ertastete er irgendeine
Tür und drückte die Klinke.
In dem schmalen Raum erkannte er die Umrisse zweier Betten, an jeder Wand eins, wie
es in Wohnheimen so ist. Auf dem linken Bett eine schnarchende Silhouette. Das rechte
Bett war leer, sogar gemacht. Hochkonzentriert trat Zbyšek über einen undefinierten
Haufen auf dem Boden, stolperte über einen Rucksack und fiel schimpfend auf die Bettkante.
Er rollte sich zusammen; die Bettwäsche roch nach Stärke und einer Frau, eine schwer
beschreibbare Mischung aus Wiesenblumenduft und Kosmetikmitteln, deren Sinn und Zweck
sich Zbyšek nie erschlossen hatte. Wenn er auf der Seite lag, schaukelte die Welt
nicht mehr ganz so wild. Er atmete durch den Mund und hielt sich das angeschlagene
Schienbein. Seine Hosenbeine fühlten sich feucht an. Allmählich fielen ihm die Augen
zu. Und dennoch war ihm irgendwie bewusst, dass dies die letzte Feier gewesen war,
dass er morgen seinen Wehrdienst antreten würde. Er seufzte leise.
Die Dunkelheit des Zimmers durchschnitt ein Lichtkegel aus dem Flur, mit ihm strömte
wie durch einen Filter auch Musik hinein, hauptsächlich Bässe. Joy Division, dachte
Zbyšek zufrieden.
»Aach«, hörte er neben sich, danach ein Kichern. Eine unerwartete Energieflut durchfuhr
ihn.
»Na, was haben wir denn da?«, fragte er neckisch und drehte sich zur Stimme.
Am Bett stand die Göttin der Feier, die rothaarige Miládka, und rang um ihr Gleichgewicht.
Den ganzen Abend hatte er die Augen kaum von ihr lassen können, doch alles nur ganz
platonisch, selbstverständlich, sie unterhielt sich ja mit Tomáš. Miládka hatte genau
die Figur, auf die er stand, einen Hauch von etwas Ätherischem und glitzernde blaue
Ohrringe.
»Was für eine …«, flüsterte er. Es kam ihm sehr unwahrscheinlich vor, dass das, was
er da gerade erlebte, auch tatsächlich passierte. Zumal, weil Miládka, abgesehen von
Männerschuhen und ihren Glitzerohrringen, splitternackt war. Er setzte sich auf dem
Bett auf. Miládka ging auf ihn zu. Sie ließ ihn ihre vollen, milchig weißen Brüste
anfassen, und Zbyšek hatte sich verliebt.
Unendlich langsam zog er sie zu sich aufs Bett, von der Nachbarliege tönte weiterhin
das regelmäßige Schnarchen herüber. Miládka lächelte zufrieden und hielt ihre Augen
geschlossen. Sie roch nach Johannisbeeren. Zbyšek zögerte nicht, er wusste, dass jeder
Zweifel fatale Folgen haben könnte. Das hier war die Erinnerung, die er sich zum Militär
mitnehmen wollte, sie würde ihn dort, da war er sich sicher, über Wasser halten.
»Wie schön«, stöhnte sie, als er in sie eindrang, und umschloss ihn fest mit Armen
und Beinen.
»Fünf lange Jahre haben wir darauf gewartet, und nun endlich, Tom«, flüsterte sie
und biss ihm leicht ins Ohr.
Zbyšek erstarrte und das Gefühl, das ihn noch kurz vorher überflutet hatte, dass das
hier nur eine schnelle heiße Nummer wird, verebbte. Er spürte, wie er abkühlte wie
ein ofenfrisches Brötchen, das in den eiskalten Schnee gefallen war.
»Fünf Jahre lang, ich kann’s immer noch nicht fassen…«, flüsterte sie verträumt. »Was
ist los mit dir, Tom?«
Diese verdammte Erziehung zur Ehrlichkeit, schoss ihm durch den Kopf. Es half alles
nichts, sie war einfach stärker als er. So gerne hätte er weitergemacht, doch er konnte
einfach nicht. Ihm wurde übel.
»Ich bin nicht Tom«, sagte er traurig.
Für einen Moment hörte Miládka auf, sich an ihn zu schmiegen, sie öffnete ihre Augen
und blinzelte ihn mit leicht kurzsichtigem Blick an. Dann drehte sie den Kopf zur
Seite und drückte ihn wieder fest an sich, sie grinste und mit resignierter Stimme
erwiderte sie: »Weißt du was, ist auch egal.«
Im Flur hatte gerade jemand gekotzt.