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Für meine geliebten Söhne
Alexander und Ignatius

Inhalt

Vorwort

Prolog: Ein Albtraum

1. Frühe Jahre

Wie alles begann: Meine ersten Akkorde

Gitanos

Auf den Hund gekommen

Rote Schuhe

Ein leckerer Kuchen

El Prado

Heiliges Herz Jesu

El Viana

Von Rom durch Europa

Falsches Lächeln

Amsterdam 1980: Punks, Püree, mein erster Song und ein ungebetener Gast

Mutter

2. On the Road

Paris, Paris

In der Metro

Top Model, Eddie Barclay et une Chanson

Notre Dame

USA

Das Geld liegt auf der Straße

Keine Macht den Spinnen!

Berlin: Eine neue Ära

3. Ganz oben

Business Manager

All you need is love

Von Arzt zu Arzt

Die Wahrheit

Das Versprechen

Panikwellen und erloschenes Feuer

„First Time“

Außer Gefecht gesetzt

4. Aufbruch

Aus dem Haus raus

Wut

Killarney, hohe Berge und neue Erfahrungen

Der Frieden von Gymnich

5. Von Leben und Tod

Eine Entscheidung, ein russischer Prinz und Schmetterlinge über den Wolken

Ein Kuss und kein Zurück

Ja, ich will

Meine beiden Wunder, Vol. 1

Den Himmel berühren

Meine beiden Wunder, Vol. 2

6. Auf dem Pulverfass

Der Gast ist König

7. Nachklang

Blühende Rosensträucher

Ein Hoch aufs Camping

Hinter Gittern

Epilog

Nachwort

Träume, die wahr werden

Biografische Daten und wichtigste Publikationen von Patricia Kelly

Bildnachweis

BILDTEIL

Vorwort

„Menschen begegnen sich nicht, Menschen werden begegnet.“ Das ist mir klar geworden, als ich Patricia Kelly zum ersten Mal traf. Sofort habe ich gespürt, welche Kraft von dieser fantastischen Künstlerin ausgeht. Ein Bündel an Energie, Witz, Klugheit – und einfach unglaublich liebenswert. Für mich ist Patricia vor allen Dingen ein großartiger Mensch und ihre treibende Kraft die Liebe zu allen, die ihr wichtig sind.

Dabei ist sie eine Künstlerin, die im wahrsten Sinne des Wortes in die schrille Welt des Showbusiness hineingeboren wurde. Zusammen mit ihrer Familie – der weltberühmten Kelly Family – schrieb sie Musikgeschichte. Dieses Erbe, der damit verbundene Ruhm, aber auch Schicksalsschläge, die sie zu bewältigen hatte, finden sich in diesem Buch wieder.

Erlebtes niederzuschreiben ist etwas sehr Persönliches und kostet Mut. Man lässt sozusagen Fremde an seiner Person und seinem Leben teilhaben, bietet Einblick in Teile seines privaten Lebens und offenbart sehr persönliche Gedanken. Patricia hat sich einfach hingesetzt und die wichtigsten und schönsten Erlebnisse, Geschichten aus alter Zeit, Gedanken und Emotionen auf ihre eigene Art zu Papier gebracht.

Die Texte sind einfach, die Sprache echt und jede Geschichte unverfälscht, denn in erster Linie hat sie dieses Buch für ihre Kinder Alexander und Ignatius sowie ihren Ehemann Denis geschrieben, aber auch für all ihre Weggefährten, Freunde und Fans. Damit ist es zugleich ein Stück Zeitgeschichte und Zeugnis einer außergewöhnlichen Karriere geworden.

Ihr tiefer persönlicher Glauben an Gott und ihre Güte fließen heute mehr denn je in ihre Arbeit ein und machen dadurch jedes ihrer Lieder zu etwas ganz Besonderem. Ich wünsche mir, dass sie uns so, wie sie ist, mit ihrem großen Herzen und ihrer brillanten Denkweise für die Zukunft erhalten bleibt.

Zum Abschluss möchte ich eine Frage nutzen, die einmal an Patricia gestellt wurde: „Was bedeuten Ihnen Werte wie Familie, Freundschaft und Liebe?“ Denn nichts beschreibt den Menschen Patricia Kelly mehr als ihre eigene Antwort:

„Liebe ist die treibende Kraft in mir, die Gott geschaffen hat. Sie ist wie die Luft zum Atmen und ohne Liebe kann ein Mensch nicht leben. Ich habe in all den Jahren an vielen Orten gelebt und mich dort wohlgefühlt, aber echtes Zuhause ist für mich nur dort, wo die Liebe ist. Dazu gehören meine Familie und meine Freunde, die über sehr lange Zeit hinweg, in Höhen und Tiefen, an meiner Seite waren. Ohne sie wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin. Familie, Freunde und Liebe lassen sich nicht kaufen, sie werden einem geschenkt. Man muss sie bewahren und auf sie achten wie auf eine zerbrechliche Porzellanvase. Wahre Liebe verändert sich nie, auch nicht durch Entfernung oder im Vergehen der Zeit.“

Nach 35 Jahren als erfolgreicher Konzert- und Tourneeproduzent und ungezählten Begegnungen mit so vielen Künstlern blieb am Ende dieses langen Weges nur die wahre Freundschaft mit Patricia übrig. Sie ist mir daher sehr wertvoll und unbezahlbar! Ja, du bist ein Geschenk Gottes und ich bin sehr dankbar, dass wir uns „begegnet wurden“.

God bless you and your family.

Manfred Hertlein

Prolog: Ein Albtraum


as schreiben Sie denn da?“

Ich blicke von meinen Aufzeichnungen hoch und schaue in das interessierte Gesicht des Arztes, den ich vor lauter Konzentration noch gar nicht bemerkt habe. Er muss das Patientenzimmer gerade erst betreten haben.

„Ein Buch“, antworte ich mit einem Lächeln.

Auf meinem Schoß liegt ein Block und in der Hand halte ich einen Stift, der bis gerade noch über das Papier geeilt ist und jede Menge Spuren aus Buchstaben und Satzzeichen hinterlassen hat.

„Auf Englisch?“, fragt er mit Blick auf meine Notizen.

„Ja, das ist meine Muttersprache.“

„Verstehe. Und alles mit der Hand?“

„Ja, so kann ich es am besten.“

„Aber wie reichen Sie das denn beim Verlag ein?“, wundert er sich, während er die Nadeln vorbereitet.

„Erst spreche ich den englischen Text auf ein Diktafon“, erkläre ich, „dann tippt es jemand ab und danach überträgt es mein Lektor ins Deutsche.“

„Aha“, sagt er, „Sie machen es sich aber kompliziert.“

„Autsch!“ – die erste Akupunkturnadel ist in meinem Ohr gelandet. Dann muss ich lachen. Er hat mich durchschaut.

„Tja, manchmal mache ich mir die Dinge tatsächlich kompliziert“, stimme ich ihm zu.

„Sieh an. Wie findet Ihr Mann das denn?“

„Er liebt mich. Zum Glück auch meine komplizierteren Seiten“, antworte ich mit einem Augenzwinkern.

20 Minuten später, als ich am Empfang stehe und mit der Sprechstundenhilfe einen weiteren Termin ausmache, läuft er an uns vorbei und fragt gut gelaunt: „Na, leben Sie noch?“

Wir lachen alle drei. Er weiß, dass ich bei der Akupunktur manchmal etwas unentspannt reagiere. Dann muss er doch noch eine Frage loswerden: „Sagen Sie, Frau Kelly, jetzt bin ich neugierig. Wenn Sie so normal durch die Straßen laufen oder einkaufen gehen, werden Sie da immer noch erkannt und angesprochen?“

„Mal so, mal so“, lasse ich ihn wissen. „Wenn ich mich nicht besonders aufhübsche oder schminke und in normaler Kleidung rausgehe, also eher unauffällig ausschaue, dann lassen mich die Leute in Ruhe und viele erkennen mich gar nicht erst. Ab und zu dreht sich der eine oder andere um oder bittet mich um ein Autogramm oder ein Foto, aber das ist auch schon alles.“

„Sind Sie froh darüber, dass Sie sich heute eher unbeschwert auf der Straße bewegen können?“

„Oh, es ist ein Traum“, sage ich und dabei strahle ich ihn wahrscheinlich gerade an.

„Und früher? Wie war das früher für Sie?“

„Ein Albtraum.“

Dann verabschiede ich mich und gehe schnell noch in den Drogeriemarkt nebenan, um ein paar Dinge für den Haushalt und die Bühne einzukaufen. Was eine Frau nicht so alles braucht! Während ich an der Kasse den Pin für die EC-Karte eintippe, geht mir meine Formulierung von zuvor noch einmal durch den Kopf. Albtraum? Ein hartes Wort.

Meine Gedanken wandern etwa zwei Jahrzehnte zurück in die Vergangenheit, zum Höhepunkt unserer Karriere als Kelly Family, irgendwann zwischen 1994 und ’95.

„Schließt die Türen!“, ruft Ingo, unser Bodyguard, laut. Klack, klack, höre ich die Zentralverriegelung, begleitet von einem unaufhörlichen Hämmern gegen die Scheiben des Wagens. Alles, was ich draußen sehe, sind Hände. Sie scheinen überall zu sein, Hände, Hände, Hände. Wie lange konnte es dauern, bis das Glas nachgab und sie zu uns vordringen würden?

„Fahr doch! Fahr!“, ruft einer von uns panisch. Doch wir bewegen uns keinen Millimeter.

„Unmöglich!“, sagt Markus, ein weiterer enger Bodyguard, der jetzt hinterm Steuer sitzt. Das Kreischen der Teeniemädchen ist unerträglich und klingt wie eine Sirene, die nicht enden will. „Aaahh! Aaahh! Kellys! Kellys! Aaahh!“ Hysterie überall, Bamm! Bamm! Bamm! von allen Seiten, selbst auf die Frontscheibe wird gehämmert. Gesichter werden gegen die Scheiben gepresst. Sie kreischen mit weit aufgerissenen Augen. Furchterregend, wie in einem Horrorfilm. Die Menge drückt von hinten, jeder Einzelne will das Auto berühren. Ich komme mir vor wie in einem U-Boot auf Tauchstation in einem Meer aus Händen und Gesichtern. Langsam kriecht die Angst meine Kehle empor. Mein Herz scheint das Blut mit hundertfacher Geschwindigkeit durch meinen Körper zu pumpen. Ich spüre es in meinen Schlagadern. Wie ein Techno-Beat, 150 bpm.

„Raus hier! Das wird langsam gefährlich!“, ruft einer von uns.

„Hallo? Hallo?“, gefolgt von einem piepsenden Signallaut. Ingo versucht verzweifelt, jemanden mit dem Funkgerät zu erreichen. „Wir brauchen Unterstützung! Wir sind am Hinterausgang der Halle. Die Fans haben den Wagen mit der Band fest im Griff. Schickt uns Hilfe!“

Bamm! Bamm! Bamm! Einer von uns gerät in Panik: „Bitte, setzt das Auto in Bewegung!“

„Geht nicht. Ein Mädchen hat sich direkt vor dem Wagen auf den Boden geworfen“, sagt unser Fahrer.

Hunderte, vielleicht Tausende von Fans stürmen aus den Toren der Halle. „Eigentlich war geplant, die Location zu verlassen, bevor die Tore geöffnet werden“, sagt Ingo. „Was ist da bloß schiefgelaufen, verdammt noch mal?“

Mein Herz scheint von Sekunde zu Sekunde schneller zu schlagen. Ein Schweißtropfen rinnt meine Stirn herab. Das Kreischen und Hämmern hört einfach nicht auf. Bamm! Bamm! Bamm!

„Die werden die Scheiben zertrümmern“, höre ich irgendjemanden ängstlich vor sich hin murmeln.

Schließlich ergreift Ingo die Initiative: „Es reicht. Ich steige aus. Wir müssen riskieren, die Tür zu öffnen.“ Er versucht es, aber sie bewegt sich nicht. Der Druck der Menge draußen ist zu stark. „Zurück!“, brüllt er und tritt mit seinen Stiefeln von innen gegen die Tür.

„Aahh! Aaaahh!“ – Die Schreie werden lauter, als die Tür schließlich aufschnellt und er sich aus dem Wagen zwängt. Wamm!, schlägt die Tür wieder zu, und Klack!, aktiviert Markus die Zentralverriegelung. Wir beobachten Ingo draußen. Jeans, Poloshirt, Timberlands und Ray Bans – er sieht aus wie ein Actionheld aus dem Kino.

„Zurück!“, brüllt er. „Zurück!“

In diesem Moment kommt eine ganze Gruppe von Security durch das hintere Tor herbeigelaufen. In der Ferne lassen sich unsere Transporter erkennen, zwölf Sattelanhänger und vier Nightliner sind dort geparkt. Eine Handvoll Roadies sieht dem wilden Treiben mit Entsetzen zu.

„Zurück!“ Die Menge wird zurückgedrängt. Einige haben angefangen zu weinen. Der Druck der Masse hat sie eingequetscht. Endlich gelingt es unseren Bodyguards, das Mädchen vor dem Wagen wegzuschaffen. Jetzt dauert es nur noch einen Moment und wir können endlich losfahren, langsam zwar, aber es geht voran.

„Mach mal das Fenster auf“, bitte ich, als wir eine normale Geschwindigkeit erreicht haben. Wir können alle etwas frische Luft gebrauchen. Ich schaue aus dem Heckfenster und sehe, wie wir die Masse hinter uns lassen. Einige laufen uns immer noch hinterher. Ich spüre ein Zittern in mir. Meine Nerven. Im Wagen wird es langsam still.

Es war nur ein Fall von vielen. Doch dieser eine ist mir aus der Zeit unseres großen Erfolgs besonders lebhaft in Erinnerung geblieben. Er rechtfertigt wie kein zweiter den Begriff „Albtraum“. Insgesamt dauerte die ganze Sache vielleicht nur ein paar Minuten, aber für mich fühlte es sich an wie eine halbe Ewigkeit.

Nach diesem Zwischenfall besorgte uns die Security für alle potenziell gefährlichen Situationen eine Polizeieskorte, etwa nach Konzerten, TV-Sendungen, Stadiontouren, großen Events, Preisverleihungen etc. Bis dato hatte ich immer gedacht, dass Rockstars oder andere bekannte Persönlichkeiten wie Schauspieler oder hochrangige Politiker es ziemlich übertreiben, wenn sie sich von der Polizei begleiten lassen. Danach sah ich das anders. Es ist kaum zu glauben, wie schnell eine solche Situation völlig außer Kontrolle geraten kann.

Als ich meinen Parkschein bezahle und das Parkhaus nach dem Arztbesuch verlasse, fühle ich mich glücklich. Zum einen brauche ich keinen Fahrer, sondern komme auch selbst sehr gut zurecht. Zum anderen sind da keine Menschenmengen, die an der Ausfahrt auf mich warten. Ich lächle und denke: „Was für ein wundervolles Leben ich doch heute führe!“

Wie alles begann: Meine ersten Akkorde


ch will mit! Ich will mit! Und mit euch singen! Singen!“, rief ich ohne Pause vor der halb geöffneten Tür unseres Zuhauses im spanischen Ejea de los Caballeros aus. Meine älteren Geschwister waren bereits in den mit Instrumenten vollgepackten Transporter geklettert und bereit loszufahren.

Zum wiederholten Mal versuchten meine Eltern, mich zu beruhigen. „Dan“, sagte meine Mutter in verzweifeltem Ton, „wenn ihr weg seid, weint sie stundenlang. Du musst etwas unternehmen.“

Ich trieb sie in den Wahnsinn, weil ich einfach nicht akzeptieren wollte, dass ich nicht mitfahren konnte. Ich musste zu Hause bei Mama und den Babys bleiben. Doch viel lieber wollte ich singen!

„Aber du bist erst fünf Jahre alt, Patricia“, sagte mein Vater, der offenbar glaubte, mir mit Argumenten beikommen zu können. „Du bist noch zu klein, um mitzukommen.“

Aus dem Wagen konnte ich die anderen hören. Sie wurden ungeduldig: „Vater, lass uns endlich losfahren!“

„Also gut“, entschied er in aller Eile, weil ich um keinen Preis der Welt aufhören wollte, um meinen Wunsch zu kämpfen, und er die Diskussion leid war. „Wenn du in zwei Wochen alle Lieder auswendig gelernt hast und sie auch auf der Gitarre spielen kannst, darfst du mit uns kommen.“

Sofort hörte ich auf zu weinen, als wäre ein Motor abgeschaltet worden. Mein Vater war zufrieden, denn sein Plan schien aufgegangen zu sein. Nicht, dass er ernsthaft geglaubt hatte, ich würde meinen Part des Deals erfüllen können.

Er sollte sein blaues Wunder erleben.

Direkt am nächsten Tag begann ich zu üben. Meine Schwester Caroline half mir und brachte mir Gitarrenakkorde bei. Das Instrument war größer als ich selbst, aber das konnte mich nicht abhalten. Nie zuvor hatte ich auf einer Gitarre gespielt, doch ich lernte schnell. Stunde um Stunde übte Caroline mit mir Akkorde und Texte, damit ich mein Ziel erreichen konnte. Ich nahm die Worte meines Vaters ernst und war fest entschlossen, am Ende als Sieger dazustehen.

Nach Ablauf der Zweiwochenfrist hatte ich tatsächlich einige Songs auf der Gitarre gelernt und kannte die meisten Texte auswendig. Mein Vater war mehr als beeindruckt. Was er als Ablenkungsmanöver betrachtet hatte, war für mich eine todernste Herausforderung gewesen. Natürlich hatte ich nicht alle Lieder auf der Gitarre gelernt. Aber er sah meine Entschlossenheit und verstand schließlich, wie wichtig es mir war, mitzukommen und an der Seite meiner Geschwister zu singen.

Vater hatte damals seinen Antiquitätenhandel aufgegeben, obwohl er damit sehr erfolgreich gewesen war, und versuchte stattdessen nun sein Glück mit der Musik. Wir sangen in Restaurants, auf Stadtfesten, Hochzeiten und so weiter. Zuerst war es ein bloßes Hobby aus purer Freude an der Musik gewesen. In meinem Geburtsort Gamonal sangen wir zusammen mit anderen Kindern am Lagerfeuer spanische Weihnachtslieder. Die Menschen dort hatten weder Fernsehen noch Radio, eigentlich nicht einmal Elektrizität, und so waren unsere kleinen Auftritte die einzige Form von Entertainment, die sie bekamen. Wir hingegen lernten so das gemeinsame Singen.

Nach einer Weile fragten die Leute uns, ob wir nicht auf ihrem Geburtstag singen könnten oder bei ähnlichen Gelegenheiten. Rasch wurden wir zur echten Attraktion – eine singende Großfamilie! Unsere ersten Konzerte fanden vor unserem Haus statt und waren gratis. Später dann versuchten wir, die Sache professioneller anzugehen und einen Beruf daraus zu machen.

Doch zurück zu mir und der Abmachung mit meinem Vater. Ein Problem gab es noch: Ich hasste Autofahren, denn ich wurde dabei seekrank und musste mich in jeder Kurve übergeben. Immer war eine Plastiktüte in der Nähe von Klein-Patricia. Doch weil ich um jeden Preis mit meinen Geschwistern auftreten wollte, nahm ich es in Kauf. Wir traten in der Stadt auf und der erste Song, den ich alleine vor Publikum sang, war ein traditionelles Weihnachtslied mit dem Titel Blanco es el Niño. Mein Vater erzählte mir später: „Als wir an jenem Abend zurück nach Hause fuhren, hast du auf dem Rücksitz des Wagens immer noch gesungen. All deine Geschwister schliefen längst, aber du warst kein bisschen müde. Ich musste lachen, denn du gabst einfach keine Ruhe. Mit uns unterwegs zu sein und singen zu können, war für dich reinstes Glück.“

Wie recht er hatte.

Gitanos


ines Tages verkaufe ich dich an die Zigeuner“, hatte mein Vater immer mal wieder zu mir gesagt, ohne eine Ahnung zu haben, was er damit anrichtete.

Schon erstaunlich, wie Kinder manche Aussagen tief in ihrer Erinnerung verankern. Für mich war dies eine davon. Natürlich hatte er es nie ernst gemeint, sondern war lediglich der typischen spanischen Art gefolgt, wie man mit Kindern sprach. Denn obwohl die Spanier Kinder über alles liebten, ihnen viel Aufmerksamkeit schenkten und sie mit Kosenamen bedachten, gab es auch Dinge zu hören wie: „Que te pique un escorpión! – dich wird ein Skorpion stechen!“ oder eben: „Ich verkaufe dich an die Zigeuner.“

Ich nahm seine Worte ernst und als eines Tages tatsächlich Zigeuner in die Gegend kamen, wuchs meine Angst ins Unermessliche. Nichts Böses ahnend sagte mein Vater irgendwann: „Patricia, die Gitanos sind in der Stadt, komm, ich verkauf dich jetzt.“ Ich brach in Tränen aus und versteckte mich ängstlich hinter der Schürze meiner Mutter. Unmittelbar begriff mein Vater, was er ausgelöst hatte, und erschrak.

Das Nächste, was mir als Bild vor Augen steht, ist die Erinnerung daran, wie ich seine Hand fest umklammert hielt, während wir auf dem Weg ins Zigeunerlager waren. Mindestens genauso fest hatte mich die Furcht im Griff, als wir einen der Wohnwagen betraten. Ein schwarzhaariger Mann mit Bart, dunkler Haut und gekleidet wie die Zigeuner, die ich aus den Märchen kannte, lächelte mich freundlich an und sprach zu mir. Doch ich hörte ihm nicht zu, sondern klammerte mich mit beiden Armen an meinen Vater und weinte unaufhörlich.

„Beruhige dich“, sagte er. „Was ich dir erzählt habe, war Unsinn. Schau doch, es sind sehr nette Leute und sie kaufen keine Kinder.“

Er trug mich auf dem Arm, während der Fremde uns das gesamte Camp zeigte. Die Worte meines Vaters zeigten langsam Wirkung und ich beruhigte mich wieder. Viele Kinder spielten am Lagerfeuer, um das herum die altmodischen, von Pferden gezogenen Holzwagen kreisförmig aufgestellt waren. In einem großen Kessel wurde Suppe gekocht und alle machten einen fröhlichen Eindruck. Meine Angst war verflogen.

Diese Zigeuner hatten nichts mit dem Klischee gemein, das im Allgemeinen von ihnen vorherrschte. Es waren stolze und ehrliche Menschen. Sie verdienten ihr Geld mit dem Verkauf von Antiquitäten, Pfannen, Tellern und jeder Menge anderer Dinge. Im Kern waren sie fahrende Händler, die ihre Ware oft selbst töpferten. Auch kultivierten sie die Musik und den Tanz des Flamenco.

An den kalten Abenden unter Millionen leuchtender Sterne konnte man hören, wie sie andalusische Weisen sangen und dazu Gitarre spielten. Für meinen Vater waren sie Freunde und ich frage mich auch heute noch manchmal, wie groß der Einfluss ihrer Lebensweise auf seine späteren Zukunftspläne wohl gewesen sein mag.

Auf den Hund gekommen


unde haben in meinem Leben schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Als wir in Spanien lebten, hatte ich eine Hündin namens Suri, die ich sehr liebte.

Fast jeder im Dorf hatte einen Hund oder eine Katze. Diese Tiere führten ein sehr freies Leben. Den ganzen Tag liefen sie draußen herum und taten, was sie wollten. Das war nicht so wie heute in Deutschland, wo man mit dem Hund an der Leine spazieren geht. Die Schattenseite war, dass öfters einmal ein Tier in den engen Gassen überfahren wurde. Und es war damals auch noch nicht üblich, Hunde und Katzen zu kastrieren. Wenn eine Hündin läufig wurde, sperrte man sie in die Scheune, und dann kamen alle Rüden aus der Nachbarschaft und gaben nachts ein ohrenbetäubendes Jaulkonzert vor der Tür, das Romeo und Julia zu Ehren gereicht hätte. Oft funktionierte diese Verhütungsmethode, aber manchmal auch nicht, sodass es ständig Hunde- und Katzennachwuchs gab.

In unserem Ort gab es einen Mann namens Pedro, genannt „El Mata Perros“ (der Hundekiller). Dieser Pedro sammelte immer die herumstreunenden Katzen- und Hundebabys ein, steckte sie mit einigen schweren Steinen in einen Sack und versenkte diesen im Fluss. Er hatte auch ein Gewehr und ging gern auf die Jagd. Ich konnte diesen Mann nicht ausstehen, aber ich schätze, so hielt man eben damals auf eine reichlich brutale Art die Vermehrung der Haustiere in Grenzen.

Normalerweise lebte Suri in dem kuscheligen Anbau direkt neben dem Weinkeller, den wir im Erdgeschoss für die Tiere eingerichtet hatten. Dort hatten wir auch ein paar Hühner und einen gemütlichen Heuhaufen in der Ecke, auf dem Suri meistens lag, wenn sie nicht auf ihren Rundgängen unterwegs war. Doch manchmal schmuggelte ich sie abends in mein Zimmer, und dann schlief sie an meinem Fußende.

Auch Suri erwartete eines Tages Babys. Ich wusste, wer der Vater war, denn ich hatte die beiden Hunde dabei beobachtet, wie sie es taten. Das war wohl der bildhafteste Biologieunterricht meines Lebens!

Als Suris Zeit gekommen war, half ich ihr bei der Geburt (eigentlich war ich nur da), und sie bekam einen großen Wurf mit neun oder zehn Welpen. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele es waren, aber ich erinnere mich noch, dass mein Vater rief: „Ach du meine Güte, wie sollen wir die nur alle unterbringen?“

Und seine Sorgen waren berechtigt, da niemand im Dorf noch mehr Hunde brauchte. Doch ich hatte einen Plan, wie ich sie an den Mann bringen wollte: Ich würde Leute einladen, die Welpen anzuschauen, solange sie noch klein und süß waren. Dann würde ich ihnen erzählen, sie sollten sich am besten gleich einen reservieren, da die Nachfrage so groß sei. Das klappte tatsächlich sehr gut und bald hatte ich für fast alle Hündchen adoptionswillige Interessenten.

Und sie waren wirklich extrem niedlich! Ich habe noch das Schmatzgeräusch im Ohr, das die Welpen machten, wenn sie an Suris Zitzen saugten. Und wie vorsichtig Suri sich bewegte, um nicht auf eines ihrer Kinder zu treten!

Doch eines Abends kam Suri nicht von ihrem üblichen Spaziergang zurück. Wir suchten überall nach ihr, ich rief ihren Namen und klopfte an sämtliche Türen im Dorf, um zu fragen, ob jemand sie gesehen hatte. Wieder und wieder. Doch die Suche blieb erfolglos. Zu Hause warteten zehn hungrige Hundewelpen auf ihre Mutter und ich musste mir etwas einfallen lassen.

Meine Mutter gab mir ein altes Babyfläschchen und Milch aus dem Kühlschrank, und mein Vater zeigte mir, wie man die Welpen versorgt. Von da an fütterte ich meine Hundebabys alle vier Stunden, auch in der Nacht. Das war gar nicht so einfach, da ich immer nur eins auf einmal füttern konnte, was eine Weile dauerte, während die anderen auf mir herumkrabbelten und fiepten und winselten, weil sie auch hungrig waren. Ich glaube, in den ersten Nächten habe ich wenig bis gar nicht geschlafen. Aber irgendwie habe ich es geschafft, sie alle großzukriegen. Eines war zuerst ein bisschen kümmerlich, aber im Laufe der Zeit wurde es zum Stärksten von allen.

Manchmal kamen ein paar Freundinnen und halfen mir, aber die meiste Zeit war ich so angebunden wie eine richtige Mutter. Wenn die anderen Kinder zum Schwimmen gingen, musste ich erst organisieren, dass jemand meine Hündchen fütterte, oder ich musste rechtzeitig wieder zurück sein. Langsam konnte ich verstehen, warum Suri immer mal wieder zu einem Spaziergang fortgegangen war. Andererseits waren die Kleinen so niedlich! Wenn ich die Tür zum Anbau öffnete, kamen sie alle auf mich zugestürmt. Und nach dem Füttern taumelten sie mit ihren prallen Bäuchen herum und schliefen dann alle auf mir ein. Ich hatte sie fest in mein Herz geschlossen.

Ich hatte mich inzwischen damit abgefunden, dass Suri nicht mehr zurückkommen würde, auch wenn ich nie erfahren sollte, was mit ihr passiert war. Im Stillen verdächtigte ich Pedro, den Hundekiller, dass er sie auf dem Gewissen hatte. Er hatte mir sogar mitteilen lassen, dass er das „Problem“ mit den Welpen für mich lösen könnte, der skrupellose Kerl.

Nach drei Monaten harter Arbeit wurden die reservierten Welpen einer nach dem anderen abgeholt, und schließlich waren nur noch zwei übrig. „Wir können sie nicht behalten, Patricia“, sagte mein Vater. „Du weißt, dass wir viel unterwegs sind, und wir können der Nachbarin nicht zumuten, auf lauter Hunde aufzupassen, wenn wir weg sind!“

Tatsächlich musste unsere arme Nachbarin immer all unsere Tiere hüten, wenn wir auf Reisen waren, und manchmal kamen wir erst nach Jahren zurück. Die Ärmste!

Schließlich erlaubte mir mein Vater, einen Welpen zu behalten. Erst im Nachhinein habe ich verstanden, dass es damals ein großes Opfer für meine Eltern war, über drei Monate die Milch für so viele Hunde zu kaufen, denn das Geld war damals knapp. Sie haben das klaglos getan, um meine zarte Kinderseele nicht zu verletzen.

Als ich klein war, hatten wir keinen Fernseher, aber ab und zu durfte ich bei Freunden oder Nachbarn ein wenig fernsehen. Meine Lieblingsserien waren „Heidi“ und „Lassie“. Und seitdem wünschte ich mir immer einen Collie.

Lange Zeit war es nicht möglich, einen Hund zu halten, da wir ständig unterwegs waren und meist nur sehr wenig Platz in unserem Bus hatten. Aber als das später besser wurde, sagte mein Vater zu mir: „Also gut, Patricia, du darfst dir einen Hund anschaffen. Aber es muss ein großer Hund sein, der wirklich abschreckend aussieht, am besten ein Irischer Wolfshund!“

Irische Wolfshunde sind die größten Hunde der Welt, sie werden über einen Meter hoch und wiegen mehr als ein durchschnittlicher Mann. Damals hatten wir schon viel Bühnen-Equipment und wertvolle Instrumente, die wir in Extra-Lastwagen mit uns führten, und da war ein richtiger Wachhund wohl wirklich eine gute Anschaffung.

Bei einem Züchter suchte ich mir einen Irischen Wolfshund-Welpen aus und nannte ihn Colin. Colin war zwar nicht der ersehnte Collie, aber eine Seele von Hund. Er passte besser auf meine kleineren Geschwister auf, als jede Nanny das gekonnt hätte.

Einmal spielten meine jüngeren Geschwister mit ihren Playmobil-Sachen auf einer Hafenmole, wo wir mit dem Hausboot vor Anker lagen. Nebenan war ein Schrottplatz, der von einem wirklich scharfen Dobermann bewacht wurde. Aus irgendeinem Grund war das Tor nicht richtig geschlossen. Der Dobermann kam herausgerast und stürzte sich auf die Kinder, doch Colin sah ihn, sprang ihm in den Weg, packte ihn im Nacken und schüttelte ihn so wild hin und her, als wäre er eine Stoffpuppe.

Überhaupt war Colin für uns alle mehr als ein Hund. Er war unser Schutzengel und der beste Freund der Kleinen, die auf ihm ritten und sich an ihn kuschelten, wenn wir abends am Kamin saßen. Man konnte ihm alle seine Sorgen anvertrauen, und ich bin sicher, dass er jedes Wort verstanden hat. Wir alle liebten ihn genauso wie ein Familienmitglied und für mich war er der Hund meines Lebens.

Meine Söhne sind mit den Geschichten über Colin aufgewachsen, und natürlich fragten sie auch immer und immer wieder, ob wir nicht auch einen Hund haben könnten. Ich hatte ihnen versprochen, dass wir uns einen Vierbeiner anschaffen, wenn wir einmal nicht mehr so viel auf Reisen wären. Ich bin überzeugt davon, dass Haustiere Kindern unendlich guttun und wichtig für ihre Entwicklung sind. Besonders Hunde sind wirkliche Seelenfreunde, und ich glaube, dass sie heilsame Kräfte besitzen.

Nachdem wir dann unser Häuschen gekauft haben und „sesshaft“ wurden, war es endlich soweit. Als ich unsere kleine Linda zum ersten Mal sah, wusste ich gleich, dass sie unser Leben ebenso bereichern würde wie meine früheren Hunde. Sie ist eine perfekt gelungene Kreuzung aus Cavalier-King-Charles-Spaniel und Malteser, nicht zu groß und nicht zu klein, und praktischerweise verliert sie kaum Haare. Zwar dachte ich, dass sie Colins Platz niemals ausfüllen könnte, doch sie hatte von Anfang an so viel positive Energie und gute Laune in unser Haus gebracht, dass ich mir da inzwischen nicht mehr so sicher bin. Den ganzen Tag läuft sie schwanzwedelnd herum und freut sich über alles und jeden. Wir alle lieben sie, besonders die Jungs, und sie liebt uns ebenso. Ein echtes Geschenk!

Die Spaziergänge mit Linda sind mir heilig. Da wir beide die einzigen Mädels im Haus sind, sind wir ein Team. Linda darf bei den Kindern im Bett schlafen, da ich noch weiß, wie wichtig es früher für mich war, dass meine Hunde ganz nah bei mir waren. In unserem Bett darf sie allerdings nicht sein – wobei sie dieses Verbot sehr geschickt zu umgehen weiß und ich oft eine kleine hundeförmige Mulde auf dem Bett vorfinde, die noch warm ist, wenn ich ins Schlafzimmer komme, während Linda mich ganz unschuldig anschaut.

Wir müssen aber auch mächtig aufpassen, denn Linda ist eine kleine Schönheit und sehr charmant, und unser Nachbarsrüde ist furchtbar verliebt in sie. Auch der Hund vom Haus gegenüber findet großen Gefallen an ihr, und manchmal hat man das Gefühl, dass sie sich in der Aufmerksamkeit ihrer beiden Verehrer richtig sonnt.

Linda ist mittlerweile ein kleiner Social-Media-Star geworden. Wann immer ich einen Beitrag mit einem Foto von ihr poste, gehen die Likes und Klickzahlen so in die Höhe, dass ich manchmal fast ein bisschen neidisch werde und denke, sie ist beliebter als ich.

Rote Schuhe


ling, Bling – es war Liebe auf den ersten Blick. Mit sechs Jahren war ich das erste Mal verliebt … in ein Paar Schuhe. Rote Schuhe. Ich hatte meine Nase und beide Hände gegen das Schaufenster des Ladens gepresst, in dem sie ausgestellt waren, bis mich meine Mutter bei der Hand nahm und sagte: „Komm, Patricia, wir müssen gehen.“ Ich erinnere mich, wie ich auf dem Heimweg nicht aufhören konnte, ganz still für mich über die roten Schuhe nachzudenken. Sie hatten mich bereits fest im Griff.

„Darf ich sie haben, Mama? Die roten Schuhe? Sie sind so schön“, fragte ich meine Mutter am nächsten Tag. Und dann fragte ich sie jeden Tag, die ganze Woche über.

Es hatte zwar seine guten Seiten, in der Provinz geboren worden zu sein, doch jetzt lernte ich die Welt kennen und hatte Blut geleckt. Und Blut ist nun einmal rot.

„Rot sind sie, rot! Diese Schuhe sind wunderschön“, erklärte meine Mutter meinem Vater. Ich wartete an ihrer Seite, wohl wissend, dass dies ein sehr großer Wunsch war. Denn immerhin waren die Schuhe sehr teuer. Es gab ein Familienbudget und unsere musikalische Zukunft stand noch in den Sternen. Teure rote Schuhe kamen da nicht gerade gelegen. Meines Vaters Reaktion war entsprechend.

„Das steht ganz außer Frage, Barbara“, erwiderte er. „Wir haben nicht das Geld, ihr diese Schuhe zu kaufen. Und ganz unabhängig davon, warum ausgerechnet dieses Paar? Warum vom teuersten Schuhladen der Stadt? Da kaufen sonst nur die Neureichen!“

Das war’s, meine erste Liebe würde unerfüllt bleiben. Ich war so traurig. Ich weinte und versuchte, die Schuhe zu vergessen. Aber sie verfolgten mich in meinen Träumen: „Kauf uns!“, riefen sie mir zu. „Kauf uns! Du musst uns haben!“

Meine Mutter konfrontierte meinen Vater ein weiteres Mal. Doch auch diesmal kam sie nicht weiter.

„Barbara! Das ist vollkommen ausgeschlossen und ganz nebenbei will ich nicht, dass meine Tochter neureiche Schuhe trägt!“

Die Diskussion eskalierte und meine Mutter wurde laut – etwas, das ich selten bei ihr erlebt hatte. „Patricia wünscht sich sonst nie etwas. Sie verdient es, diese Schuhe zu bekommen!“ Sie kämpfte um meinen Wunsch, doch mein Vater weigerte sich nachzugeben.

„Es ist nicht fair, ihr so ein teures Paar zu kaufen und den anderen Kindern nicht“, sagte er in erregtem Tonfall.

Die Diskussion ging hin und her. Ich verließ das Zimmer und fühlte mich schuldig, meine Eltern in ein solches Streitgespräch verwickelt zu haben. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie jemals zuvor in unserer Gegenwart gestritten hatten. Eigentlich kannte ich sie nur in Frieden und Harmonie miteinander. Tia Narcisa, unsere liebe Haushaltshilfe aus Garmonal, meine Hebamme, hatte mir später einmal gesagt, „Deine Eltern waren halb verrückt vor Liebe zueinander. So etwas hatte ich zuvor noch nie gesehen.“ Und so war für mich klar, dass ich meine Besessenheit beenden musste. Schweren Herzens hörte ich auf, meine Mutter nach den Schuhen zu fragen.

Ein paar Tage später sagte sie gut gelaunt zu mir: „Patricia, zieh dir deinen Mantel an, wir gehen shoppen. Nur du und ich.“

Ich war überrascht, denn es gab keinen besonderen Anlass, gerade jetzt einkaufen zu gehen. „Aber was kaufen wir denn?“, fragte ich verwundert.

„Komm“, sagte sie nur und lächelte.

Als wir unser Ziel ansteuerten, wurde mir klar, dass meine Mutter das Schuhgeschäft besuchen wollte, das ich so sehr liebte. Unglaublich! Ich kann die Glückseligkeit, die in mir aufkam, kaum mit Worten beschreiben. Ich würde meine heiß ersehnten roten Schuhe bekommen!

Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie ich sie an den Füßen trage und immer wieder zu ihnen herunterschaue. Ich muss wohl mit tausend Leuten zusammengestoßen und gegen Laternenmasten gelaufen sein, aber das war mir egal. Ich war so stolz!

Eine Weile lang habe ich geglaubt, dass ich die ganze Geschichte vielleicht nur erfunden hätte. Doch dann schaute ich mir vor ein paar Jahren alte Familienfotos aus der damaligen Zeit an und plötzlich, oh du meine Güte … Bling, Bling! Da waren sie! An meinen Füßen! Ich fragte mich, wie meine Mutter meinen Vater wohl überzeugt hatte. Oder hatte sie die Schuhe einfach gekauft? Ich weiß es bis heute nicht, aber ich wünschte, ich könnte sie noch fragen.

Ein leckerer Kuchen


ehr geehrte Damen und Herren, die folgende Geschichte ist nicht für kleine Ohren geeignet. Sie könnten auf einige wirklich dumme Ideen gebracht werden.

Wenn es etwas gibt, für das ich mich in meinem Leben rückblickend wirklich schäme, dann ist es wohl das, was Sie jetzt lesen werden.

Es war in Spanien. Der Sommer war herrlich, und unser Gemüsegarten und die Obstbäume trugen reiche Früchte. Es gab saftige Birnen, süße Pflaumen, Feigen und Kirschen. Die Asche im Feuerplatz unter dem alten Birnbaum, an dem sich unsere Familie im Mondlicht um das Feuer versammelt und gemeinsam musiziert hat, ist noch warm vom Abend zuvor.

Ich war damals neun oder zehn Jahre alt und furchtbar verliebt in Felix. Felix war Mitte 30 und unser Kunstlehrer. Ein hochintelligenter Philosoph und wahrer Künstler. Allerdings konnte er von seiner Kunst nicht leben und nicht sterben. Niemand wollte seine abstrakten kubistischen Werke kaufen, die Ende der Siebzigerjahre nicht in Mode waren. Und er weigerte sich standhaft, seine Seele an den Kommerz zu verkaufen, um die Miete bezahlen zu können, wie so viele seiner Kollegen es taten.

Jeden Mittwoch kam er mit seiner alten „Ente“ (dem Citröen Deux Chevaux) aus Pamplona aufs Land hinausgetuckert, um uns zu unterrichten. Stundenlang saß ich neben ihm und hörte zu, wie er mit meinem Vater über Philosophie, Religion und Politik diskutierte.

Wow, dachte ich. Das ist ein echter Mann! Einer, der für die Wahrheit einsteht. Und er ist so klug!

Und kochen konnte er auch richtig gut. Morgens holte er immer frischen Fisch auf dem Markt und brachte ihn mit zu uns hinaus. „Besugo“ war eine baskische Spezialität. Ich schaute Felix dabei zu, wie er den Fisch am Küchentisch zubereitete. Wenn dieser gewürzt war, grillte Felix ihn über dem offenen Holzfeuer in der Küche, dem Mittelpunkt unseres Heims. Das war jedes Mal ein Festessen, nach dem wir uns alle Finger leckten. Ich habe nie wieder einen so leckeren Fisch gegessen! Vielleicht ist ja etwas Wahres dran an dem Sprichwort „Liebe geht durch den Magen“.

Ich hatte zwar gehört, dass Felix eine Freundin hatte, doch das nahm ich nicht ernst, denn ich war überzeugt davon, dass er mich ebenso liebte wie ich ihn und mich eines Tages heiraten würde. Die Konkurrentin existierte nicht in meiner Welt.

An einem wunderschönen Mittwoch kam Felix wie immer in unsere Küche spaziert. „Hey Leute, heute ist mein Geburtstag!“, rief er. „Und ich möchte ihn mit euch allen feiern!“

Hinter ihm kam eine Frau herein und begrüßte mich: „Hi, Patricia, Felix hat mir schon so viel von dir erzählt!“, sagte sie. „Ich bin Anna, Felix’ Freundin!“

Mein Herz blieb stehen. Wie konnte er nur …?!? Ich rannte nach oben in mein Zimmer, umarmte meine Lieblingspuppe und weinte mir die Augen aus.

Nächste Szene: Ich sitze mit zweien meiner Brüder unter dem Birnbaum im Garten. Die beiden hatte ich ohne große Probleme auf meine Seite gekriegt. Ich hatte einen Plan: Wir würden Felix einen Kuchen machen. Aber einen mit ganz besonderen Zutaten …

Gemeinsam suchten wir im Garten nach Tierexkrementen. Ja, Sie haben ganz richtig gelesen. Wir nahmen, was wir auf dem Boden fanden. Dort hinein mischten wir noch Zucker und Vanille … nun ja, sehr viel Vanille, um den Geruch zu überdecken. „Vanille ist immer gut. Ach, was soll’s, lasst uns die ganze Flasche nehmen, dann riecht es gut.“

Wir kamen richtig in Fahrt und benutzen so ziemlich alle Zutaten, die meine Mutter in der Küche hatte. Das Ganze dekorierten wir mit Kakao, Puderzucker und Walnüssen. Ich muss zugeben. Als wir fertig waren, sah es wirklich verführerisch lecker aus.

„Oh, ist der für mich?“, rief Felix. Er war so gerührt, dass er seine Tränen nicht verbergen konnte.

„Ja, sagte ich. „Den haben wir ganz allein für dich gemacht!“

Das alles passierte vor den Augen meiner Eltern und Geschwister. Alle glaubten wirklich, dass ich einen Kuchen als nette Überraschung zu Felix’ Geburtstag gemacht hatte. Vor allem mein Vater war sehr beeindruckt von seiner Tochter, die noch nie zuvor irgendein Interesse am Backen gezeigt hatte.

„Moment noch“, sagte er. „Lasst uns alle zusammen ‚Happy Birthday‘ singen!“

Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, dear Felix“, sangen alle. Oh, ich hätte fast vergessen zu erwähnen, dass wir sogar einige Kerzen auf den Kuchen gesteckt hatten. Jemand hatte sie angezündet, und ein anderer holte ein Messer und begann den Kuchen zu schneiden.

Mein Vater rief: „Felix bekommt das erste Stück!“

Ich war wie eingefroren und konnte nichts sagen oder tun. Hilflos starrte ich meinen Bruder an und er starrte zurück, während der Löffel sich Felix’ Mund näherte.

Als ich endlich schrie: „Nein, stopp!! Nicht essen!“, hatte er das Meisterwerk bereits in seinen Mund befördert.

„Aber er schmeckt köstlich!“, sagte er.

Am liebsten hätte ich mich übergeben. „Nein, nein … da ist Kaka drin!“

„Buäääh!“ Er spuckte alles auf seinen Teller und rannte ins Badezimmer.

Ich weiß nicht mehr, was danach passiert ist. Mein Vater war total schockiert, aber ich erinnere mich nicht daran, für diese Sache bestraft worden zu sein. Es ist ein schwarzes Loch in meiner Erinnerung.

Rache ist eben süß. Leg dich besser nicht mit Patricia an!

El Prado


wei Erwachsene und zwei Kinder bitte“, sagte mein Mann zu dem jungen Ticketverkäufer an der Museumskasse.

„Wenn Sie den Museumsführer dazu nehmen, bekommen Sie einen Rabatt.“

„Oh ja!“, rief ich voller Vorfreude über Denis’ Schulter hinweg, „das machen wir.“

Beim Sicherheitscheck am Eingang wurde Denis gebeten, seinen Rucksack an der Garderobe zu lassen. Dann ging es in die heiligen Hallen von El Prado, einem der berühmtesten Museen der Welt. Das Erste, was mich erfüllte, war großes Erstaunen darüber, dass keines der vielen bedeutenden Bilder, die es dort zu sehen gab, durch Glas geschützt war. Boschs „Garten der Lüste“, Goyas „Nackte Maja“ oder „Las Meninas“ von Velázquez – alle gerade einmal einen Meter vom Betrachter entfernt und lediglich gesichert durch ein Absperrseil. Sofort meldete sich mein Beschützerinstinkt: Was, wenn ein Wahnsinniger die Gemälde mit einem Stift oder Messer beschädigen würde? Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass jedes gute Kunstwerk automatisch Neid hervorbringt, und so hatte es mich bei unserem letzten Besuch in Rom auch nicht überrascht, Michelangelos weltberühmte „Pietá“ gut geschützt hinter dicken Glasscheiben zu sehen. Einige Jahre zuvor hatte jemand versucht, die Skulptur mit einem Hammer zu zerstören, und das wollte man ganz bestimmt kein zweites Mal riskieren. Als Kind war ich mit meinen Eltern schon einmal dort gewesen, doch damals konnte man die Skulptur noch praktisch berühren – so wie jetzt die Bilder in El Prado.

Als ich den zweiten Raum betrat, verschwanden alle Befürchtungen sofort, denn meine Emotionen übernahmen die Kontrolle und als ich den Gemälden von Bosch und van der Weyden gegenüberstand, schossen mir heiße Tränen in die Augen. Spätestens jetzt war ich dankbar, dass die Bilder nur einen Meter entfernt von mir hingen und ich sie ohne schützendes Glas betrachten konnte.

„Was ist los, Shishik?“, fragte Denis, als er meine Gefühle und Tränen bemerkte und mich sofort tröstend in den Arm nahm. Shishik ist sein selbst erfundener Kosename für mich. Er hatte sich irgendwie aus Patricia ergeben.

„Ach, ich bin nur so glücklich, so bewegt“, erklärte ich ihm.

Und wie ich gerührt vor den Bildern stand und meine Gedanken auf Reisen gingen, fiel mir eine Geschichte ein, in der Tränen einen ganz anderen Ursprung hatten. Sie hatte sich vor mehr als drei Jahrzehnten ereignet.

Damals muss sich mein Vater ähnlich gefühlt haben wie ich jetzt. Er war ein großer Liebhaber von El Prado und hatte das Museum immer besucht, wenn er in Madrid war. Er liebte alles, was schön, wahrhaftig und authentisch war – drei Worte, die er oft gebrauchte. Aber es gab darüber hinaus noch eine ganz andere, sehr persönliche Verbindung zwischen ihm und El Prado.

Es ereignete sich eines frühen Morgens, als nur wenige Leute im Museum waren. Mein Vater schlenderte durch diese großartigen und außergewöhnlichen Räume, so wie er es oft tat. Doch noch ein zweiter Besucher war schon zu so früher Stunde gekommen – ein junger Mann, der vor einem Gemälde saß und weinte. Mein Vater beobachtete ihn eine Weile, dann entschloss er sich, ihn anzusprechen.

Welche Worte die beiden wechselten, weiß ich nicht, doch der Name des Mannes ist mir gut bekannt: Fernando. Ich erinnere mich daran, wie ich als kleines Kind auf seinem Schoß gesessen hatte, während er „Hopp, hopp, hopp“ sang und so tat, als sei er ein Pferd. Er war ein Mann von großer Statur mit einem kräftigen Lachen und einer lebensfrohen Natur, und, oh ja, er liebte Spiegeleier! Am besten drei auf einmal bitte, gebacken in Olivenöl, wie es in Spanien üblich ist. Dass er dabei keine Gabel benutzte, hatte mich sehr beeindruckt. Stattdessen verwendete er zwei große Scheiben Weißbrot, um sich die Eier vom Teller in den Mund zu schaffen – und das ganz ohne zu kleckern. Er hatte Stil, selbst beim Essen von Spiegeleiern.

Ich erinnere mich an einen kühlen Abend, als wir in Gamonal auf der Terrasse saßen, überdacht von Weinranken und versammelt um einen hübsch dekorierten großen Tisch mit einer riesigen Schüssel Gazpacho in der Mitte und einer eisgekühlten Wassermelone aus dem Garten. Tagsüber lag die Temperatur im Sommer meist über 40 Grad, aber nach dem Sonnenuntergang kühlte es ab. Dann kamen die Menschen zusammen, um genau wie wir gemeinsam unter freiem Himmel zu essen.

Aus irgendeinem Grund waren wir an diesem Abend alle sehr glücklich und Fernando lachte viel. Er liebte es, uns Witze zu erzählen. Und wie wir es gar nicht anders von ihm kannten, lachte er lauter als alle anderen zusammen.

Fernando entstammte gehobenen Kreisen, doch für uns war er wie ein weiteres Familienmitglied. Ich fragte mich damals, wieso er meinen Vater so sehr verehrte. Und warum er so oft bei uns zu Hause war und wie ein Sohn behandelt wurde. Die Antwort sollte ich viel später bekommen und sie reicht zurück bis zu jenem Tag im Museum.

Als mein Vater ihn damals ansprach, war Fernando noch Medizinstudent und ganz sicherlich ein sehr begabter. Nichts wollte er lieber als Arzt werden und die Menschen heilen. Er weinte bitterlich, aber seine Tränen galten nicht den Gemälden. Er weinte, weil er seinen medizinischen Abschluss nicht geschafft hatte und nun fest entschlossen war, sich das Leben zu nehmen. Sein Besuch in El Prado war das Letzte, was er zuvor noch hatte tun wollen.

Als wir nach einem ganzen Tag im Museum in unser Hotelzimmer zurückgekehrt waren, legte ich meinen Kopf an Denis’ Schulter und sagte: „Weißt du, Liebling, ich habe mich eben an die Geschichte von Fernando erinnert.“

„Wer ist Fernando?“, fragte er, denn ich hatte ihm nie zuvor von dem Mann erzählt, der eine Weile lang einfach zu unserer Familie dazugehört hatte.

Und als ich ihm jetzt die Geschichte vortrug und mich dabei in ihr verlor, wurde mir bewusst, dass sie ein sehr glückliches Ende genommen hatte. Mit der großen moralischen Unterstützung meines Vaters hatte sich Fernando nämlich entschlossen, sein Examen zu wiederholen – und bestand. Diesmal durfte er seinen Hippokratischen Eid schwören und über die Jahre wurde er zu einem der besten und beliebtesten Ärzte seiner Stadt. Man sagt, seine Beerdigung sei von Hunderten Menschen besucht worden, die sich in Liebe und Dankbarkeit von ihm hatten verabschieden wollen. Er muss vielen geholfen haben.

Was war es, das mein Vater ihm an jenem Morgen gegeben hatte? Eine Familie? Hoffnung? Liebe?

Meinem Sohn Alexander hatte bei unserem Museumsbesuch vor allem El Grecos Bild „Die Auferstehung Christi“ gefallen und in gewissem Sinne hatte Fernando damals auch eine Art Auferstehung erlebt. Wenn mein Sohn jetzt diese Geschichte über seinen Großvater liest, hoffe ich, er lernt daraus, dass die Aufmerksamkeit, die man einem einzelnen Menschen in Not widmet, nicht nur dessen Leben, sondern auch dasjenige vieler anderer retten kann. Eine große Erkenntnis.

Heiliges Herz Jesu


ie folgenden beiden Erinnerungsstücke sind sehr kurz und einfach, doch ihr Einfluss auf mein Leben war immens. Es sind zwei kleine Ereignisse, die ich wie Filmausschnitte in meinem Gedächtnis gespeichert habe. Wie alt ich war, kann ich nicht mehr genau sagen, aber vermutlich wird es in meinem sechsten oder siebten Lebensjahr gewesen sein.

Wenn ich daran zurückdenke, fühlt es sich ein bisschen an wie eine außerkörperliche Erfahrung, denn die Bilder in meinem Kopf zeigen mich seltsamerweise immer von oben. Ich sehe mich die Stufen unseres Zuhauses in den spanischen Pyrenäen hochlaufen. Die jüngere Version von mir ist ganz aufgeregt, denn sie will den Dachstuhl erforschen. Außer ein paar Spinnennetzen gibt es dort oben nichts, keine alten Kisten, keine Möbel, nichts.

Dann jedoch entdecke ich etwas auf dem Boden. Ich knie mich hin, um es genauer zu betrachten: ein zusammengefaltetes Stück Papier. Mit kindlicher Neugier nehme ich es in die Hand und sehe genauer hin. Es ist ein alter Farbdruck, der Jesus zeigt. Er schaut mich direkt an und mein Blick fällt sofort auf sein brennendes Herz. Es ist im Zentrum seines Brustkorbs sichtbar und er scheint es mir mit seinen Händen entgegenzuhalten. Das trifft mich wie ein Blitz. Ich beginne zu weinen, denn ich weiß, dass er leidet. Eine Dornenkrone sticht in sein Herz und erschrocken versuche ich, sie mit meinen kleinen Fingern wegzunehmen. Aber natürlich gelingt mir das nicht, denn es ist ja nur ein Bild. Doch für mich wirkt es in diesem Moment real. Ich kann seine Schmerzen fühlen und umso mehr muss ich weinen.

Hier hört die erste Erinnerung auf.