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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 1



50 Masterpieces You Must Read Before You Die: Vol. 1 (German Edition)
Inhaltsverzeichnis
50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst
Kandide oder Die beste aller Welten (1759)
Die Leiden des jungen Werther (1774)
Ahnung und Gegenwart (1815)
Frankenstein oder Der moderne Prometheus (1818)
Ivanhoe (1819)
Eugénie Grandet (1833)
Vater Goriot (1835)
Gullivers Reisen (1839)
Die Entführung (1839)
Die Kartause von Parma (1839)
Der Pfadfinder (1840)
Der Doppelmord in der Rue Morgue (1841)
Die toten Seelen (1842)
Ein Weihnachtslied (1843)
Jane Eyre, die Waise von Lowood (1847)
Die Dame mit den Kamelien (1848)
Aphorismen zur Lebensweisheit (1850)
Der scharlachrote Buchstabe (1850)
Die Götter im Exil (1853)
Bartleby (1856)
Madame Bovary (1857)
Oblomow (1859)
Salambo (1862)
Der Spieler (1866)
Alice's Abenteuer im Wunderland (1869)
Reise um die Erde in 80 Tagen (1873)
Zwanzigtausend Meilen unter’m Meer (1874)
Germinal (1885)
Also sprach Zarathustra (1885)
Bel Ami (1885)
Huckleberry Finns Abenteuer und Fahrten (1885)
Der Geizige (1887)
Der Junker von Ballantrae (1889)
Das Vermächtnis des Inka (1892)
Das Dschungelbuch (1894)
Effi Briest (1896)
Die Schatzinsel (1897)
Das Herz der Finsternis (1899)
Ein Verteidiger (1900)
Der Weg ins Freie (1908)
Die Gespenstersonate (1908)
Die Verwandlung (1912)
Das Bildnis des Dorian Gray (1922)
Tonka (1922)
Amok. Novellen einer Leidenschaft (1922)
Der Prozeß (1925)
Amerika (1927)
Zipper und sein Vater (1928)
Schloß Gripsholm (1931)
Schachnovelle (1942)

Kandide oder Die beste aller Welten (1759)

Voltaire


Inhaltsverzeichnis
Kandide oder Die beste aller Welten (1759)
Kapitel 1 Was maßen Kandide in einem schönen Schlosse erzogen und aus selbigem fortgejagt wird
Kapitel 2 Wie's Kandiden unter den Bulgaren geht
Kapitel 3 Wie Kandide den Bulgaren entkam und wie's ihm nachher erging
Kapitel 4 Wie Kandide seinen alten Lehrmeister in der Philosophie, den Magister Panglos, wiederfand und was weiter geschahe
Kapitel 5 Seesturm, Schiffbruch, Erdbeben, Schicksal des Magister Panglos, Kandidens und des Wiedertäufers Jakob Schwezinger
Kapitel 6 Probates Mittel der hochehrwürdigen Inquisition fürs Erdbeben, bestehend in einem schönen Autodafe, wobei Kandide den Staupbesen bekommt
Kapitel 7 Kandide wird von der Alten wohl gepflegt und findet unverhofft seine Geliebte
Kapitel 8 Baroneß Kunegundens Geschichte
Kapitel 9 Was sich mit Kunegunden, Kandiden, dem Großinquisitor und einem Juden zuträgt
Kapitel 10 Kandide, Kunegunde und die Alte kommen in einer gar schlimmen Lage zu Cadix an und schiffen sich ein
Kapitel 11 Geschichte der Alten
Kapitel 12 Wie übel es der Alten weiter erging
Kapitel 13 Wie sich Kandide genötigt sahe, die schöne Kunegunde und die Alte zu verlassen
Kapitel 14 Wie Kandide und Kakambo in Paraguay von den Jesuiten aufgenommen werden
Kapitel 15 Weshalb Kandide den Bruder seines Mädchens tötet
Kapitel 16 Zwei Mädchen und zwei Paviane stoßen unsern Reisenden auf. Wie's ihnen bei den Wilden, die Langohren genamst, ergeht
Kapitel 17 Kandide kommt mit seinem Bedienten nach Eldorado. Was sie da gesehn
Kapitel 18 Was sie in Eldorado sahen
Kapitel 19 Was ihnen zu Surinam begegnet, und wie Kandide mit Martinen bekannt wird
Kapitel 20 Seeabenteuer Kandidens und Martins
Kapitel 21 Kandide und Martin nähern sich den französischen Küsten. Wovon sie sich unterhalten
Kapitel 22 Was Kandiden und Martinen in Frankreich begegnet
Kapitel 23 Kandide und Martin kommen an die englischen Küsten; was sie dort sehn
Kapitel 24 Von Gertruden und Bruder Viola'n
Kapitel 25 Besuch beim Signor Pocourante, Nobile di Venezia
Kapitel 26 Kandide und Martin speisten mit sechs Ausländern. Wer diese Ausländer waren
Kapitel 27 Kandidens Reise nach Konstantinopel
Kapitel 28 Baron von Donnerstrunkshausen und Panglos erzählen, was ihnen bisher begegnet ist
Kapitel 29 Was maßen Kandide Kunegunden und die Alte wiederfand
Kapitel 30 Schlußszene

Kapitel 1 Was maßen Kandide in einem schönen Schlosse erzogen und aus selbigem fortgejagt wird

In Westfalen auf dem Schlosse des Herrn Baron von Donnerstrunkshausen ward mit der jungen Herrschaft zugleich ein junger Mensch erzogen, ein gar liebes, sanftes Geschöpf, aus dessen kleinstem Gesichtszuge Sanftheit hervorblickte. An Kopf fehlt' es ihm gar nicht, und doch war er so offen, so rund, so ohn' alles Arg wie unsre Ahnen. Ebendeswegen, glaub ich, nannte ihn Baroneß Engeline, Schwester des Herrn Barons, Kandide. Wie hätte eine Dame, die anderthalb Jahr zu Berlin in französischer Pension gewesen, sich auf einen teutschen Namen besinnen, oder wenn sie sich ja darauf besonnen, ihn goutieren können?

Kandide war – munkelten die alten Bedienten im Hause, – eine heimliche Liebesfrucht von ebenbesagter Schwester des Herrn Barons und einem guten ehrlichen Schlag von Landjunker aus der Nachbarschaft. Zum Gemahl hatte ihn die gnädge Baroneß nie gemocht, weil der arme Schlucker seinen Adel mit nicht mehr als einundsiebenzig Ahnen belegen konnte und weil der Rest seines Stammbaums durch den scharfen Zahn der Zeit war auf genagt worden.

Der Herr Baron, Hans Jost Kurt von Donnerstrunkshausen, war einer der Matadore in Westfalen, denn sein Schloß hatte Tür' und Fenster, ja sogar einen austapezierten Saal. Seine Kettenhunde stellten, wenn Not an Mann kam, eine Jagdkoppel vor, seine Stallknechte die Jäger und der Priester im Dorfe den Oberschloßkaplan. Alt und jung nannte den alten Herrn Ihro hochfreiherrliche Gnaden, und wollte vor Lachen bersten, wenn er etwas erzählte.

Die Frau Baroneß stand in gar großem Ansehn, denn sie wog richtig ihre dreihundertundfünfzig Pfund, wo nicht noch mehr, und wußte die Honneurs mit einer Würde zu machen, die ihr noch größre Hochachtung verschaffte.

Ihre Tochter, die Baroneß Kunegunde, war ein munters, rundes, rotbäckiges Ding, siebzehn Sommer alt und gar lieblich anzuschaun; Junker Polde, ihr Bruder, ein würdiges Ebenbild des gnädgen Herrn Papa. Magister Panglos, der Hofmeister der jungen Herrschaft, stellte das Hausorakel vor. Der junge Kandide schluckte jegliche seiner Lehren mit der Treuherzigkeit hinter, die seinem Alter und Charakter gemäß war.

Panglos lehrte die Metaphysiko-theologo-kosmolo-nigologie; bewies mit der stärksten philosophischen Suade, daß ohne Ursach keine Wirkung sein könne, und daß in dieser besten aller möglichen Welten das Schloß des gnädgen Herrn Barons das schönste aller Schlösser sei und die gnädge Frau die beste aller möglichen Baroninnen.

Es ist bereits klärlich dargetan, hub er zu demonstieren an, daß die Dinge nicht anders sein können, als sie sind; denn alldieweil alles, was da ist, zu einem Endzweck geschaffen worden, so zielt notwendig alles zu dem besten Endzweck ab. Gebt nur acht, und Ihr werdet diese Grundwahrheit durchgängig bestätigt finden. Betrachtet zum Beispiel Eure Nasen. Sie wurden gemacht, um Brillen zu tragen, und man trägt auch welche. Eure Beine: Ihr empfingt sie, um sie zu bestrümpfen und zu beschuhen, und Ihr bestrümpft und beschuht sie. Seht die Quadersteine an! Sie wachsen, um zersägt, behauen, und zum Bau der Paläste verwandt zu werden, derohalben hat unser gnädiger Herr Baron einen gar herrlichen Palast von Quadersteinen; der größte Baron im ganzen Herzogtume muß die beste, bequemste Wohnung haben, und hat sie auch. Die Schweine schuf Gott, damit der Mensch sie äße, essen wir nicht Schweinefleisch jahraus jahrein? Folglich ist es Torheit mit einigen zu behaupten, daß alles gut gemacht ist, aufs beste ist alles gemacht, muß man sagen.

Das fing der junge Kandide mit beiden offnen Ohren auf, und glaubte es in seiner Herzenseinfalt steif weg, denn er fand Baroneß Gundchen außerordentlich schön, ob er gleich nie den Mut gehabt hatte, es ihr zu sagen. Er schloß, die erste Stufe irdischer Glückseligkeit wäre Freiherr auf und von Donnerstrunkshausen, die zweite Baroneß Kunegunde zu sein, die dritte, sie täglich zu sehen, die vierte, den Magister Panglos zu hören, den größten Philosophen im ganzen Westfälischen Kreise, folglich auch in der ganzen Welt.

Eines Tages, als Baroneß Kunegunde in dem kleinen Gehölze am Schlosse spazierenging, das man den hochfreiherrlichen Park nannte, erblickte sie hinter dem Gesträuch den Herrn Magister Panglos, der Versuche aus der Experimentalphysik mit ihrer Frau Mutter Kammerjungfer anstellte, einem gar niedlichen und gar gefügen braunen Dirnchen. Die junge Baroneß lauscht' und lauschte mit dem leisesten Atemzug und beobachtete – denn sie hatte ungemeine Anlage zu den Wissenschaften – all' die Experimente, die der Magister von Zeit zu Zeit wiederholte; sähe Panglosens zureichenden Grund, die Ursachen und Wirkungen gar deutlich, und schlich fort in tiefen Gedanken. Ihr war so wohl und so weh ums Herz; die Begier, gelehrt zu werden, füllte ihre ganze Seele, und der Gedanke: sie könnte wohl des jungen Kandide zureichender Grund werden, und er der ihrige. Beim Hereintreten ins Schloß begegnete ihr Kandide; sie ward rot, Kandide auch. Guten Morgen Kandide! stammelte sie. Und Kandide schwatzte mit ihr, ohne zu wissen was. Den folgenden Tag, nach aufgehobner Mittagstafel, befanden sich Kunegund' und Kandide hinter einer spanischen Wand; Kunegunde ließ ihr Schnupftuch fallen, Kandide hob's auf; sie nahm ihn in aller Unschuld bei der Hand, er, auch in aller Unschuld, küßte der jungen Baronesse die ihrige, und das so warm, so herzlich! O es war keiner von Euren Theaterküssen! Ihre Lippen begegneten einander, ihre Augen erglühten, ihre Kniee bebten, ihre Hände verirrten sich.

In eben dem Nu ging der Herr Baron von Donnerstrunkshausen bei dem Schirm vorbei, und diese Ursach' und diese Wirkung erblickend, jagt' er Kandiden mit derben Fußtritten zum Schlosse hinaus. Gundchen sank in Ohnmacht; sobald sie sich ein wenig erholt hatte, ward sie von der gestrengen Frau Mama wieder völlig in's Leben zurückmaulschelliert, und in dem schönsten und anmutigsten aller Schlösser herrschte Bestürzung über Bestürzung.

Kapitel 2 Wie's Kandiden unter den Bulgaren geht

Vertrieben aus seinem irdischen Paradiese wanderte Kandide mit weinendem Auge fort, ohne zu wissen wohin, oft gen Himmel blickend, noch öfter nach dem Palaste, der die schönste aller jungen Baronessinnen in sich schloß; mit leerem Magen legt' er sich mitten im Felde hin, zwischen zwei Furchen. Es schneite die Nacht durch heftig; ganz erstarrt schlich Kandide mit dämmerndem Morgen nach einer benachbarten Stadt. Sterbensmatt vor Hunger und Strapaze, nicht einen Heller Geld bei sich, macht' er vor der Tür eines Wirtshauses höchst betrübt halt.

Zwei Blauröcke wurden ihn gewahr. Ha! ein hübscher Kerl, Herr Bruder! sagte der eine. Wie'n Rohr gewachsen! Just so groß, wie wir'n brauchen! Sie gingen auf Kandiden los und baten ihn sehr höflich, zu Mittag mit ihnen zu speisen. Ich finde mich ungemein durch Ihre Einladung beehrt, meine Herren, sagte Kandide mit einem bescheidenen Ton, der gleich seine Nation verriet, allein ich habe kein Geld, kann meine Zeche nicht zahlen. Ach! was Geld! was Zeche zahlen! sagte einer von den Männern. Das haben solche wohlgewachsne, artige junge Herren wie Sie nicht nötig. Sie messen sechs Zoll?

Die mess' ich, meine Herrn, sagte er mit einer Verbeugung. "Hurtig, mein Herr! zu Tische. Wir zahlen nicht allein die Zeche für Sie, wir werden auch sorgen, daß es einem Manne wie Ihnen nie an Gelde fehlt. Wozu sind die Menschen in der Welt, als einander beizustehn, unter die Arme zu greifen?" Wohl wahr! sagte Kandide, so hat mich der Herr Magister Panglos immer gelehrt, und ich sehe wohl ein, daß alles aufs beste gemacht ist. Man drang ihm etliche Taler auf; er wollt' ihnen dafür schwarz auf weiß geben; sie wollten's nicht. Man setzt sich zu Tische, ißt, trinkt. Nicht wahr, fängt der eine an, Sie sind ihm recht herzlich gut dem … Dem herzensguten engelhaften Kunegundchen? antwortet' er. Wohl bin ich's; ich liebe sie; bete sie an. "Nicht doch! den König der Bulgaren meinen wir, ob Sie dem recht herzlich gut sind?" Was wollt' ich? Ich kenn' ihn gar nicht, antwortete jener; hab' ihn nie gesehn. "Kennen ihn gar nicht! Haben ihn nicht gesehn! Den Mann nicht! Teufel! das ist der trefflichste Herr auf Gottes Erdboden! solchen König gibt's gar nicht mehr! Hallo! Er soll leben!" Das soll er! rief Kandide aus vollem Herzen, und stieß an. Wie er geleert, hieß es: Na, so wär's denn geschehn! Nun sind Sie Held! Die Säule der Bulgaren! Ihr Schutz und ihr Schirm! Die Schranken der Ehre stehn vor Ihnen geöffnet! Lorbeern ohne Zahl warten Ihrer!

Sogleich legte man ihm Schellen an die Füße und führte ihn zum Regimente. Da lernt' er das Rechtsundlinksumkehrteuch, Gewehr hoch, Gewehr beim Fuß, Feuer, Marsch, und kriegt' dabei dreißig Prügel; den andern Tag exerziert' er schon ein wenig besser und bekommt nur zwanzig; den Tag drauf gar nur zehne, und all' seine Kameraden gafften ihn als ein blaues Meerwunder an.

Kandide war noch ganz verdutzt, konnte gar nicht recht begreifen, wie er so im Hui zum Helden geworden. An einem schönen Frühlingsmorgen fällt's ihm ein, spazierenzugehn. Er schlendert grade vor sich hin, der Meinung: die Menschen hätten sowohl wie die Tiere das Vorrecht, sich ihrer Beine nach Belieben zu bedienen. Kaum hat er zwei Meilen gemacht, wie ein Blitz sind ihm vier andre sechsschuhige Helden auf den Hals, binden ihn und werfen ihn in ein Loch, wohin nicht Sonne nicht Mond kam.

Ein wohllöbliches Kriegsgericht fragte ihn, was er lieber wollte, sechsunddreißigmal Spießrutenlaufen oder sich drei bleierne Kugeln mit eins ins Gehirn jagen lassen. Kandide hatte gut sagen, daß des Menschen Wille frei sei und daß er keins von beiden möchte; das half nichts, er mußte wählen. Sonach entschloß er sich denn, kraft der lieben Gottesgabe, Willensfreiheit genannt, sechsunddreißigmal Spießruten zu laufen.

Zweimal hatte er die Wandrung gemacht, Gaß' auf, Gaß' ab; und weil das Regiment aus zweitausend Mann bestand, hatte er seine viertausend Hiebe richtig weg. Alle Muskeln und Nerven vom Nacken an bis zum Wirbelbein des Rückens herab, lagen ganz blank und bar da. Den dritten Gang machen sollend und nicht könnend, erbat er sichs zur Gnade, erschossen zu werden. Man gestand's ihm zu; verband ihm die Augen, ließ ihn niederknien.

In eben dem Nu reitet der König der Bulgaren vorbei, fragt, was der arme Sünder begangen und nimmt aus allen Umständen ab – denn er war ein großes Genie –, daß Kandide ein junger Metaphysiker sei, dabei noch völlig Neuling in der Welt, und begnadigte ihn mit einer Milde, die Welt und Afterwelt in Journalen und Chroniken preisen wird. Ein braver Kompaniefeldscher kurierte Kandiden binnen drei Wochen mit erweichenden Mitteln nach der Vorschrift des großen Dioskorides. Haut hatte Kandide bereits schon ziemlich, und marschieren könnt' er auch schon, als der König der Bulgaren dem Könige der Abaren ein Treffen lieferte.

Kapitel 3 Wie Kandide den Bulgaren entkam und wie's ihm nachher erging

So flink und flimmernd, so wohlgeordnet, so stattlich hatte man noch nie Armeen gesehn als diese beiden. Trompeten und Pfeifen, Hoboen und Trommeln, Mörser und Kanonen machten ein so vollstimmiges Konzert, als selbst Satanas in der Hölle nicht geben kann.

Zuerst rissen die Kanonen auf jeder Seite so ein sechstausend Mann nieder, alsdann säuberte das Musketenfeuer die beste aller möglichen Welten von so ein neun- bis zehntausend Schurken, die deren Oberfläche angesteckt hatten. Das Bajonett war gleichfalls ein zureichender Grund, daß einige tausend Menschen umkamen. Die ganze Summe mochte sich wohl auf ein dreißigtausend Seelen belaufen.

Kandide, der als echter Philosoph zitterte und bebte, ließ die heroischen Metzger immer fortmetzeln und verbarg sich, so gut er konnte.

Endlich hatte die Fehd' ein Ende; die beiden Könige ließen das Te Deum in ihren Lagern anstimmen. Derweil faßte unser Kandide den Entschluß, in andern Gegenden über Wirkungen und Ursachen zu philosophieren; stieg über die Haufen der Toten und Sterbenden weg und arbeitete sich in einen nahbelegnen Aschenhaufen vom Dorfe herein. Es hatte vor kurzem den Abaren gehört, und die Bulgaren hatten es dem Völkerrechte gemäß abgebrannt.

Greise lagen hier, die Wund' an Wunde hatten und neben sich ihre zermetzelten Weiber mußten hinsterben sehn, an deren blutenden Brüsten ihre Säuglinge zappelten; dort gaben Jungfrauen ihren Geist auf, deren jegliche einem Halbdutzend Helden ihre Naturbedürfnisse hatte stillen müssen und nachher war entbaucht worden; hier schrien andre, deren Leichnam halbverbrannt war: man möcht' ihnen nur den Rest geben. Die ganze Erde war mit Gehirnen übersät und mit Armen und Beinen.

Kandide floh in voller Hast in ein ander Dorf. Es gehörte den Bulgaren, und die Helden unter den Abaren hatten ihnen kein Haar besser mitgespielt. Noch immer mußte der arme Flüchtling über zuckende Glieder gehn und über Schutt und Graus. Endlich sah' er sich außerhalb des Kriegstheaters; in seinem Schnappsack etwas weniges Mundproviant habend und in seinem Herzen die ihm unvergeßliche Baroneß Gundchen. Als er in Holland ankam, war er mit seinem Proviant zu Rande; da er aber gehört hatte, hier sei jedermann reich und Christ, so dacht' er, es würd' ihm hier so gut gehn als im Schlosse des Herrn Barons, bevor er aus selbigem Baroneß Gundchens schöner blauer Augen halber war gejagt worden. Er sprach viele gravitätsche Allongenperücken, die sich bei ihm vorbeischoben, um einen Zehrpfennig an und viele ehrbare alte Hauspostillen, die bei ihm wegtrippelten; allein diese sowohl wie jene rückten mit nichts hervor als mit der Ermahnung: diese Lebensart fahren zu lassen, sonst würde man ihn im Zuchthause unterbringen.

Hierauf wandt' er sich an einen Mann, der eine Stunde lang ganz allein in einer großen Versammlung über christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit gesprochen. Dieser Redner sah' ihn über die Schulter an und sagte: Freund, warum seid Ihr hieher kommen? Um Euch zu dem kleinen Häuflein der Gerechten und Stillen im Lande zu gesellen? Oder waserlei ist die Ursach?

Jegliche Wirkung, hub Kandide in bescheidnem Tone an, hat ihre Grundursach; jegliche Begebenheit unsers Lebens ist ein notwendiges Glied in der Kette der Dinge; ist selbiger aufs geschickteste, beste eingepaßt. Ich mußte von Baroneß Kunegunden fortgejagt werden, mußte Spießruten laufen und muß so lange mein Brot betteln gehn, bis ich welches verdienen kann; das alles konnte nicht anders kommen.

Glaubt Ihr denn, mein Freund, sagte der Redner zu ihm, daß der Papst der Antichrist sei? Davon hab' ich noch nie gehört, antwortete jener, auch gilt's mir ganz gleich, sei er's oder sei er's nicht; hätt' ich nur Brot. Auch nicht der Brosämlein einen verdienst du, heilloser Bube, die von der Herren Tische fallen, sagte der Schwarzrock. Heb' dich aus meinen Augen, du Schalk du! du Belialsbrut!

Des Redners Frau, die den Kopf zum Fenster hinausgesteckt und vernommen hatte, daß es einen Menschen gab, der an der Antichristheit des Papsts zweifelte, leerte über sein Haupt einen vollgerüttelten und geschüttelten Nachttopf. Gott, wie weit geht der Religionseifer bei den Damen!

Ein niegetauftes Geschöpf, ein wackrer Wiedertäufer, namens Jakob Schwezinger, sähe, wie hartherzig, wie schmählich man einem seiner Brüder begegnete, einem zweifüßigen, federlosen Geschöpf, das doch eine Seele hatte; und es jammerte ihn sein, und er führte ihn hinab in sein Haus und säuberte ihn und gab ihm Brot zu essen und Bier zu trinken, und schenkte ihm zwei Gulden; auch wollt' er ihn sogar in seiner Fabrik arbeiten lehren, woselbst mitten in Holland persische Stoffe verfertigt wurden.

Kandide wollte sich ihm zu Füßen werfen und schrie: Er hat wohl recht, der gute Herr Magister! Diese Welt ist die beste! Ihr außerordentlicher Edelmut macht tiefern Eindruck auf mich als die Hartherzigkeit des Herrn Schwarzmantels und seiner Frau Gemahlin.

Den folgenden Tag stieß er beim Spazierengehn auf eine wahre Lazarusfigur von Bettler. Über und über mit Schwären bedeckt war sein Aug erloschen, die Nasenspitze weggefressen, der Mund ganz verzogen, die Zähne kohlschwarz. Er gurgelte und hustete jedes Wort hervor; und sein Husten war so heftig, daß er jedesmal einen Zahn ausspie.

Kapitel 4 Wie Kandide seinen alten Lehrmeister in der Philosophie, den Magister Panglos, wiederfand und was weiter geschahe

Kandide, der mehr Mitleid als Entsetzen bei diesem Anblick empfand, gab dem Scheusal von Bettler die zwei Gulden, die ihm der biederherzige Wiedertäufer Jakob gegeben hatte. Diese Jammergestalt sah' ihn starr an, Tränen rannten von ihren Wangen, und sie fiel Kandiden um den Hals, der vor Schreck zurückbebte.

Und Ihr kennt Euren lieben Panglos nicht mehr? sagte der eine Unglückliche zum andern Unglücklichen. "Was hör' ich? Sie sind's, mein lieber Lehrer? Sind in solch gräßlich Elend gesunken? Wodurch das? Und weshalb nicht mehr in dem schönsten aller Schlösser? Was ist aus Baroneß Kunegunden geworden, der Perl' aller Mädchen, dem Meisterstücke der Natur?" Mit mir ist's aus, rief Panglos, und sank um.

Alsbald schleppt' ihn Kandide in des Wiedertäufers Stall und gab ihm ein paar Bissen Brot, und als er sich wieder ein wenig erquickt hatte, fragt' er ihn: Nun, und Kunegunde? Ist tot, erwiderte jener. Bei diesen Worten sank Kandide in Ohnmacht; sein Freund brachte ihn mit einem paar Tropfen verdorbnem Weinessig wieder zu sich, der sich von ungefähr im Stalle fand. Kandide (die Augen aufschlagend): Tot! Kunegunde tot! Oh, wo bist du beste der Welten ? – Aber woran starb sie? Gab ihr das den Tod, daß sie mich aus ihres Herrn Vaters schönem Schlosse mit derben Fußstößen hinausjagen sahe?

Panglos. Das nicht! Bulgarische Soldaten schlitzten ihr den Bauch auf, nachdem sie selbige zuvor auf's möglichste genotzüchtigt hatten; den Baron, der ihr beistehn wollen, hatten sie vor'n Kopf geschossen; die Frau Baronin in Stücken zerhauen; meinem armen Untergebnen nicht besser mitgespielt als seiner Baroneß Schwester; und was das Schloß anlangt, da ist kein Hammel, keine Ente am Leben geblieben, kein Stein auf dem andern, keine Scheune, kein Stall, kein Baum auf seinem alten Fleck. Wir haben aber Genugtuung bekommen, völlige Genugtuung. Die Abaren haben's auf einem benachbarten bulgarischen Rittersitz ebenso gemacht.

Kandide sank bei der Erzählung abermals in Ohnmacht; nachdem er aber wieder zu sich gekommen war und ein gehöriges Lamento angestimmt hatte, erkundigt' er sich nach der Ursach und Wirkung und dem zureichenden Grunde, der Panglosen in einen so erbärmlichen Zustand versetzt.

Panglos. Ach Liebe war's, Liebe, sie, die Trost auf das ganze menschliche Geschlecht herabströmt, das ganze Universum umfaßt und erhält, sie, der Lebensquell aller fühlenden Geschöpfe; Liebe war's, der zärtlichste aller Affekte. Kandide. Auch ich hab sie gekannt, diese Liebe, sie, die alle Herzen beherrscht, Leben und Licht in unsre Seele bringt; und der Lohn, den sie mir gab, bestand aus einem Kuß und zwanzig Fußtritten in den Hintern; ein beßrer Lohn ward mir nie. Wie konnte aber diese schöne Ursach so abscheuliche Wirkungen bei Ihnen hervorbringen?

Panglos. Sie haben doch die Gertrud gekannt, lieber Kandide, das niedliche Zöpfchen von dem königlichen Weibe der alten Baronessin? In ihren Armen hab' ich Paradieseswonne geschmeckt, und eben die hat das Höllenfeuer in all' meinen Adern angefacht, das mich jetzt so wütig anfleckt. Das arme Mädchen war angesteckt und ist vielleicht schon nicht mehr. Gertrud hatte von einem hochgelahrten Franziskanermönch dies Geschenk, das er aus der ersten Hand bekommen hatte; denn er hatte es von einer alten Reichsgräfin, die Gräfin von einem Dragonerhauptmann, der Hauptmann von einer Marquise, die Marquise von einem Pagen, der Page von einem Jesuiten, und der Jesuit noch in seinem Probestande recta via von einem Gefährten des Christoph Kolumbus. Ich meines Orts, werd's niemanden mitteilen, denn ich sterbe.

Kandide. O Panglos! Eine gar sonderbare Sippschaft! Der Teufel ist wohl gar der Stammvater?

Panglos. Behüte! Die beste aller möglichen Welten konnte ohne diese Krankheit nicht bestehen; sie war ein unumgänglich nötiges Ingredienz; denn hätte nicht Kolumbus in einer amerikanischen Insel diese Seuche geholt, die den Zeugungsquell vergiftet, seine Wirkungen oft völlig entkräftet und dem großen Zwecke der Natur augenscheinlich entgegenarbeitet, so hätten wir weder Schokolat noch Koschenille.

Überdies muß man bemerken, daß sie lediglich nur uns Europäern anhängt, so wie die Sucht zu polemisieren. Türken und Inder, und die da wohnen in China und Siam und Japan wissen davon noch nichts bis auf den heutigen Tag. Indes gibt's einen zureichenden Grund, daß in den Folgejahrhunderten auch an diese Völker die Reihe kommen wird, sie kennenzulernen. Derweil' aber macht sie bei uns ganz erstaunend Schnelle Fortschritte, zumal in den großen Armeen, welche aus lauter wackern, wohlerzogenen Mietlingen bestehn, die das Schicksal der Staaten entscheiden. Man kann behaupten, wenn dreißigtausend Mann gegen eine eben so starke Armee in Schlachtordnung stehn, daß sich auf jeder Seite ungefähr an die zwanzigtausend befinden, die die Lustseuche haben.

Kandide. Alles gut, lieber Magister, aber jetzt müssen Sie auf Ihre Kur denken.

Panglos. Auf meine Kur denken, und habe keinen Heller. Sie müssen wissen, liebes Kind, auf Gottes weitem, rundem Erdboden gibt's keine Seele nicht, die einem zur Ader läßt oder ein Klistier setzt, wenn man's nicht bezahlen kann, oder nicht einen hat, der's an unsrer Stelle tut.

Panglosens letzte Worte bestimmten Kandiden; er flog zu seinem mitleidigen Wiedertäufer, warf sich ihm zu Füßen und malte seines Freundes Zustand mit so warmem, kräftigem Pinsel, daß dieser Biedermann den Magister ohn' alle Schwierigkeit annahm und ihn auf seine Kosten heilen ließ.

Panglos verlor bei der Kur nur ein Auge und ein Ohr. Schreiben könnt' er wie der geschickteste Kanzelist und rechnen wie Euler; darum macht' ihn Wiedertäufer Jakob zu seinem Buchhalter.

Als er nach Verlauf von zwei Monaten in Handlungsangelegenheiten nach Lissabon gehen mußte, nahm er seine beiden Philosophen mit. Panglos bewies ihm deutlich, es sei alles auf das beste eingerichtet. Gewesen wohl, fiel ihm Jakob Schwezinger ein, aber jetzt nicht mehr. Durch die Menschen, denk' ich, ist die Natur um ein gut Teil verdorben worden. Wolfssinn ward ihnen nicht angeboren und doch haben sie ihn. Gott gab ihnen nicht Vierundzwanzigpfünder, nicht Bajonette, sie gössen sie sich aber, schliffen sie sich, um einander aufzureiben. Auch die Bankrotte könnt' ich hier in Anschlag bringen, und die Obrigkeiten, welche die Gläubiger um des Bankrottiers Habe prellen und es in ihren Wanst schieben. Alles das ist unumgänglich notwendig, erwiderte Magister Einauge. Es trägt zum allgemeinen Wohl bei, wenn Hinz unglücklich ist und Kunz; je mehr Privatunglücksfälle also, je besser für's Ganze.

Während des Philosophierens bewölkte sich der Himmel, die Winde bliesen aus allen vier Enden der Welt, und das schrecklichste Ungewitter packte das Schiff im Angesicht des Lissabonner Hafens.

Kapitel 5 Seesturm, Schiffbruch, Erdbeben, Schicksal des Magister Panglos, Kandidens und des Wiedertäufers Jakob Schwezinger

Nicht lange, so waren die Segel zerrissen, die Maste zerschmettert, das hinundhergeschleuderte Schiff ganz leck. Der Schreck war den meisten darauf so heftig auf die Nerven gefallen, hatte solche Revolution in ihrem ganzen Körper hervorgebracht, daß sie ganz fühllos und starr bei der sie umschwebenden Gefahr waren; die übrigen kreischten und beteten laut; wer arbeiten konnte, arbeitete; da hörte niemand, befahl niemand.

Der Wiedertäufer stand auf dem Verdeck und half ein wenig. Ein wütender Matros stürzte ihn durch einen derben Stoß zu Boden, prellte aber durch dessen Heftigkeit selbst eine Ecke zurück und über Bord kopfüber ins Wasser. Zum Glück blieb er an einem Ende des Mastes hängen. Der gutherzige Jakob springt ihm zur Hilfe, zerarbeitet und zerquält sich, ihn heraufzuziehn, und fällt darüber selbst ins Meer. Der dabeistehende Matros läßt seinen Retter untersinken, ohn' einmal auf ihn hinzublicken. Kandide kommt herzu, sieht seinen Wohltäter mit den Wellen kämpfen und einen Augenblick darauf auf ewig von ihnen verschlungen. Er will ihm nach, Philosoph Panglos hält ihn zurück und beweist ihm, die Lissabonner Reede sei ausdrücklich dazu erschaffen worden, daß Wiedertäufer Schwezinger daselbst ertrinken mußte.

Indem er dies a priori bewies, barst das Schiff. Alles, was drauf war, kam um bis auf Panglosen, Kandiden und das Ungeheuer von Matrosen, der den tugendhaften Wiedertäufer hatte ertrinken lassen. Der Schurke schwamm glücklich ans Ufer, das Panglos und Kandide gleichfalls auf einer Planke erreichten.

Wie sie sich etwas erholt hatten, gingen sie auf Lissabon zu, in der Hoffnung, mit dem kleinen Überrest ihres Geldes sich vor dem Hunger zu bergen, nachdem sie glücklich dem Schiffbruch entronnen waren; unterwegs manche Träne über den Tod ihres Wohltäters vergießend.

Kaum hatten sie den Fuß in die Stadt gesetzt, so fühlten sie die Erde unter sich dröhnen, das Meer brauste im Hafen empor und zerschellte die vor Anker liegenden Schiffe. Feuer- und Aschenwirbel bedeckten die Gassen und öffentlichen Plätze; die Grundfesten der Häuser wichen aus den Fugen, Giebel, Dächer stürzten herab, die Häuser zerschossen in Schutt und Trümmer, und dreißigtausend Einwohner jegliches Geschlechts und Alters erlagen unter selbigen.

Schwernot! hier wird's was zu schnappen geben! rief der Matros und pfiff sich ein lustig Stückchen. Was mag wohl der zureichende Grund dieses Phänomens sein? sagte Panglos. Es ist der jüngste Tag! rief Kandide.

Der Matros rannte spornstreichs unter die herabstürzenden Balken und Mauern und trotzte dem Tode, um Geld zu finden. Er fand welches, stopfte alle Taschen damit voll, besoff sich, und wie er den Rausch ausgeschlafen, dung er sich die erste beste Jungfer gutwillig, die er antraf, und mitten auf dem Schutt eingestürzter Häuser und unterm Haufen Sterbender und Toter berauschte er sich an dem fröhlichsten Liebesgenuß. Panglos zupfte ihn indes beim Ärmel und sagte: Daran tut Ihr nicht Recht, Freund; das streitet mit allen Gesetzen der Billigkeit; dazu ist jetzt keine Zeit. "Schocktausend Pestilenz! Herr, ich bin Matros und aus Batavia; bin viermal in Japan gewest und habs Kruzifix viermal mit Füßen getreten. Bei mir kömmt Er gar blind mit seiner Billigkeit und all dem dummen Schnack."

Während der Zeit, daß dies im Hintergrunde vorging, hatten einige herabgestürzte Steine Kandiden hart getroffen; er war umgesunken und lag unter den Trümmern fast begraben. Lieber Panglos! rief er, nur ein wenig Wein und Öl, oder ich muß sterben. Dieses Erdbeben ist gar nichts besonders, antwortete der sich nähernde Panglos, im verwichnen Jahre hatte die Stadt Lima in Amerika ein gleiches Schicksal: gleiche Ursachen bringen gleiche Wirkungen hervor, es geht ganz gewiß kein Strich Schwefel von Lima bis nach Lissabon unter der Erde weg.

"Höchstwahrscheinlich! aber um Gottes willen ein wenig Öl und Wein." Wahrscheinlich nur? nur wahrscheinlich wär's? erwiderte der Philosoph, erwiesen ist es, Herr, klar erwiesen, behaupt' ich. Kandide ward ohnmächtig, und Panglos brachte ihm ein wenig Wasser aus einem benachbarten Springbrunnen. Sie durchkrochen den Tag darauf die eingestürzten Gebäude, fanden da einige Lebensmittel, erquickten und stärkten sich wieder ein wenig und halfen darauf – wie andre auch taten – den dem Tode entronnenen Einwohnern retten, was sich noch retten ließ.

Einige Bürger, denen sie beigesprungen waren, tischten ihnen ein so gutes Mahl auf, als man in der Lage nur verlangen konnte. Es war ein Mahl der Traurigkeit, jeder Bissen mit Tränen benetzt.

Panglos tröstete die Anwesenden und gab ihnen die Versicherung; daß es gar nicht anders sein könnte, weil die Welt aufs beste eingerichtet sei. Denn, sagte er, wenn zu Lissabon ein unterirdischer Brand ist, kann keiner zu Wien und Berlin sein, sintemal es unmöglich, daß ein Ding an mehr als an einem Orte zugleich sein kann, alldieweil alles, was da ist, gut ist.

Neben ihm saß ein schwarzröckiges Männlein, ein Familiar der heiligen Inquisition, das hub in höflichem Tone an: Vermutlich glauben der Herr keine Erbsünde, denn wenn alles, was da ist, gut ist, gibt's weder Sündenfall noch Strafe.

Ich bitte Ew. Hochehrwürden alleruntertänigst um Verzeihung, erwiderte Panglos mit noch höflicherm Ton und Gebärden, ich glaube beides, alldieweil der Sündenfall und der über die Menschen ausgesprochne Fluch in den Plan der besten aller möglichen Welten notwendig hereingehören.

Also statuieren der Herr keine Willensfreiheit? sagte der Familiar. "Ew. Hochehrwürden verzeihen; Willensfreiheit kann sich mit der unumschränkten Notwendigkeit gar wohl vertragen, sintemal es notwendig war, daß wir willensfrei waren, alldieweil der vorherbestimmte Wille … "

Panglos steckte noch mitten in seiner Demonstration, als der Familiar der Inquisition seinem Untergebenen, der ihm Oporto oder Porto einschenkte, einen Wink mit dem Kopf gab.

Kapitel 6 Probates Mittel der hochehrwürdigen Inquisition fürs Erdbeben, bestehend in einem schönen Autodafe, wobei Kandide den Staupbesen bekommt

Nachdem das Erdbeben drei Viertel von Lissabon verwüstet hatte, war im Rate der Wächter und Weisen des Landes beschlossen worden, dem Pöbel ein gar stattliches Autodafe zu geben. Ein kräftigers Mittel, dem gänzlichen Untergange der Stadt vorzubauen, hatten sie nicht können ausfindig machen. Auch hatte die Universität zu Coimbra den Ausspruch getan: einige Personen mit gehörigen Solennitäten und Formalitäten an langsamem Feuer gebraten, wäre das probateste Mittel, allen f ernerweitigen Erdbeben vorzubeugen.

Sonach hatte man einen Biskajer eingezogen, der seine Gevatterin geheiratet zu haben war überführt worden, und zwei Portugiesen, die den Speck aus einem Huhn geschnitten hatten, eh' sie's gegessen. Nach dem Essen wurde Magister Panglos samt seinem Jünger Kandide in Ketten und Banden gelegt; jener wegen seiner Reden, dieser wegen der Miene des Beifalls, mit der er zugehört. Man führte jeden in ein besonders Gemach, kühl wie ein Eiskeller, wo die Sonne einem nie auf die Scheitel stach. Nachdem acht Tage verflossen waren, legte man ein Skapulier um ihre Schultern und schmückte ihre Häupter mit Papiermützen. Kandidens Mütz' und Skapulier war mit abwärtsgehenden Flammen bemalt und mit Teufeln sonder Krallen und Schwänzen, aber Panglosens Teufel hatten Krallen und Schwänze, und die Flammen stiegen aufwärts.

So bekleidet zogen sie in feierlichster Prozession daher, hörten eine Predigt an, die durch Mark und Bein fuhr, und darnach eine gar unliebliche, disharmonische Choralmusik. Während des Gesangs ward Kandide nach Noten mit Ruten gestrichen; der Biskajer und die beiden Speckverächter verbrannt, und Panglos wider allen Schick und Brauch aufgehängt. Und unter der Erde begann von neuem ein gräßliches Gerassel und Geprassel.

Kandide, ganz ein Raub der Angst und des Schreckens, an jedem Gliede zitternd und blutrünstig, sagte bei sich selbst: Ist das die beste aller möglichen Welten, nun so möcht' ich die übrigen sehn! Daß ich mit Ruten gestrichen werde, möchte noch hingehn, wurd' ich's doch auch bei den Bulgaren; aber daß ich dich muß hängen sehn, trauter Panglos, größter aller Philosophen, ohne zu wissen warum; daß ich dich, bester aller Menschen, trauter Jakob, vor meinen Augen im Hafen mußte ertrinken sehn, daß ich hören muß, wie Ihnen, Baroneß Gundchen, der Kron' aller Mädchen, der Bauch ist aufgeschlitzt worden, das, das kann ich nicht verschmerzen, das verleitet mich zu murren.

Mit jedem Schritt einknickend, schwankte Kandide zur Stadt hinaus; war durch Prediger und Büttel wohl gestäupt worden, hatte Absolution und Segen erhalten. Ein altes Mütterchen näherte sich ihm und sagte: Seid getrost und unverzagt, mein Sohn, und kommt mit.

Kapitel 7 Kandide wird von der Alten wohl gepflegt und findet unverhofft seine Geliebte

Getrost und unverzagt ward Kandide nun zwar nicht, aber mit ging er. Sein Führer brachte ihn in ein altes, ganz verfallnes Gebäude, gab ihm ein Krügelchen Pomade, sich damit zu salben, setzte ihm zu essen und zu trinken hin, zeigte ihm ein ganz sauber Bettchen und daneben einen ganz vollständigen Anzug. "So wünsch' ich Ihnen denn gesegnete Mahlzeit und auch angenehme Ruh! Und empfehle Sie der gnädgen Obhut Unsrer Lieben Frauen im Busche und des heiligen Antonius von Padua und des heiligen Jakobs von Compostel, unsrer allergnädigsten Schutzpatrone. Morgen früh mach' ich Ihnen wieder meine Aufwartung."

Kandide durch alles, was er gesehn, durch alles, was er erlitten, am meisten aber durch das liebreiche Betragen der Alten in die heftigste Rührung versetzt, ergriff mit Wärme ihre Hand und wollte sie zum Munde führen. "Nein, das wollte ich mir sehr verbeten haben; das gebührt mir nicht. Morgen bin ich ja wieder da. Brauchen Sie nur die Pomade recht hübsch, lieber junger Herr, und speisen Sie und ruhen Sie fein wohl." Das tat denn Kandide; aß und schlief sich gründlich aus, so hart ihn auch so vielerlei Ungemach zu Boden drückte. Den folgenden Morgen brachte ihm die Matrone zu frühstücken, besichtigte seinen Rücken und salbte ihn mit einer andern Salbe; gegen Mittag brachte sie ihm zu essen und gegen Abend gleichfalls. Grade so machte sie's auch folgenden Tages. Wer ist Sie, gute Alte? fragte Kandide jedesmal. Was bewegt Sie zu dem liebreichen Betragen? Sag Sie, wie kann ich dafür erkenntlich sein? Kein stummes Wörtchen war von der Alten herauszubringen. Gegen Abend kam sie wieder, aber ganz leer. Kommen Sie mit, sagte sie, aber mäuschenstill!

Sie nimmt ihn beim Arm und führt ihn wohl eine Viertelmeile weit über Feld. Nunmehr befanden sie sich bei einem freiliegenden Hause, mit Gärten und Kanälen umgeben. Die Alte pocht an ein Pförtchen. Es wird aufgetan, und Kandide von seiner Führerin eine Winkeltreppe heraufgeführt in ein vergoldetes Kabinett; hier muß er sich auf ein brokatnes Sofa niederlassen. Sie machte die Tür zu und ging fort. Kandide glaubte zu träumen, hielt sein ganzes Leben für einen widrigen Traum und den jetzigen Augenblick für einen glücklichen.

Die Alte kam bald wieder und führte eine verschleierte Dame herein von majestätischem Wuchs und schimmerndem Anzug, die an jedem Gliede bebte und mit genauer Not konnte von der Alten aufrecht erhalten werden. Nehmen Sie den Schleier ab, sagte das Mütterchen zum Kandide. Er nahte sich und hob mit blöder Hand den Schleier auf.

Wie dem jungen Mann in dem Augenblick zu Mute ward! Ihm däuchte, seine Baroneß Gundchen vor sich zu sehn, und sie stand in der Tat vor ihm. Dieser so überraschende Anblick fiel mit aller Macht über ihn; das Übermaß seines Glücks berauschte ihn so, daß er sprachlos und ohne Bewegung zu ihren Füßen hinsank, Gundchen fiel ohne Sinne aufs Sofa.

Die Alte bestrich sie mit allerhand Stärkungswässern. Ihre Sinne sammelten sich wieder, die Sprache fand sich wieder ein. Unzusammenhängende Laute rissen sich anfänglich von ihrem gepreßten Herzen los; und dann durchkreuzten sich Frag' und Antwort, Seufzer und Tränen, und Schreie der Freud' und des Erstaunens. Die Alte riet ihnen, nicht zu laut zu werden, und ließ sie in völliger Freiheit.

"Ha! so leben Sie wirklich noch, Baroneß? So find' ich Sie in Portugal wieder! So sind Sie nicht geschändet worden; so hat man Ihnen nicht den Bauch aufgeschlitzt!" Doch! doch! sagte die schöne Kunigunde, allein man stirbt daran nicht immer. "Aber der gnädge Herr Papa sind getötet worden, und die gnädge Frau Mama?" Leider! alle beide! und Tränen tröpfelten aus Kunegundens Auge. "Und Dero Herr Bruder auch?" "Auch der!" "Wie sind Sie aber nach Portugal gekommen? Wie haben Sie meinen Aufenthalt erfahren? Wie mich hierhergezaubert? Den Schlüssel, liebste Kunegunde, zu all' den seltsamen Abenteuern!"

Den sollen Sie sogleich haben, erwiderte die Dame, zuvor aber müssen Sie mir erzählen, wie's Ihnen nach dem unschuldigen Kuß gegangen ist, den Sie mir gaben, und den Fußtritten, die Sie bekamen.

So beklommen auch noch Kandide sich fühlte, so schwach und zitternd seine Stimme war, so weh' ihm auch noch sein Rückgrat tat, so erzählt' er ihr doch mit der tiefsten Ehrerbietung und aufs allertreuherzigste all' seine Leiden nach ihrer Trennung. Das Auge gen Himmel gerichtet schenkte Kunegunde dem Gedächtnis des braven Wiedertäufers und Panglosens einige Zähren; hierauf sprach sie zu Kandide wie folgt. Ebenso gierig als er das liebreizende Mädchen mit den Augen verschlang, verschlang er auch jedes ihrer Worte.

Kapitel 8 Baroneß Kunegundens Geschichte

Ich schlief noch ganz wohlbehäglich, als es dem Himmel gefiel, Bulgaren in unser schönes Schloß Donnerstrunkshausen zu senden. Mein Vater und Bruder mußten über die Klinge springen, meine Mutter hieben sie in Krautstücken. Bei diesem gräßlichen Auftritt verlor ich alle Besinnung. Dies nutzte ein langer Bulgar von sechs Schuh, machte sich über mich her und begann, mich zu schänden. Hierdurch erwacht' ich von meiner Ohnmacht, bekam all' meine Sinne wieder, kreischte laut, zerrang und zerarbeitete mich, um loszukommen, biß um mich, kratzte, wollte dem großen Tölpel die Augen ausreißen. Hätt' ich gewußt, daß das alles Kriegsgebrauch wäre, ich hätte mich anders dabei benommen.

Der Unmensch gab mir mit seinem Degen einen Stich in die linke Seite, wovon ich noch die Narbe habe. Die ich doch wohl werde zu sehn bekommen? fragte Kandide ganz in seines Herzens Unschuld. Warum das nicht! sagte Kunegunde, allein jetzt lassen Sie mich nur weitererzählen. "Das tun Sie, gnädige Baroneß, das tun Sie!"

Sie knüpfte den Faden ihrer Geschichte folgendermaßen wieder an:

Ein bulgarischer Hauptmann trat in mein Schlafgemach, sähe wie mein Blut herabtropft, der Soldat blieb, wo er Posten gefaßt hatte. Der Hauptmann ward wild, daß dies Vieh so wenig Subordination bezeigte, und stach ihn auf meinem Leibe tot, er ließ mich hierauf verbinden und führte mich als Kriegsgefangne in sein Quartier. Ich wusch ihm sein paar Hemden und bestellte seine Küche.

Er fand – muß ich gestehen –, daß ich ein gar niedlich Ding sei, und er war – ich kann's gar nicht in Abrede sein – eine sehr wohlgebaute Mannsperson, hatte eine weiche, weiße Haut, aber herzlich wenig Kopf und noch weniger Philosophie: man merkt' es ihm gleich an, daß er kein Schüler des großen Panglos gewesen war. Binnen einem Vierteljahr war all' sein Geldchen fort und er meiner überdrüssig; er verkaufte mich an den Don Isaschar, einen Juden, der nach Holland und Portugal handelte und ein ungemeiner Liebhaber von Frauenzimmern war.

Wie der Mann an mir hing, wie er mit Bitten und Gewalt in mich drang, und doch konnt' er nicht siegen. Ich tat ihm tapfrern Widerstand als dem bulgarischen Soldaten. Ein rechtschaffnes Mädchen kann wohl einmal geschändet werden, aber dadurch wird sie um so mehr Lukrezia. Um mich zahmer zu machen, führte mich der Jude auf dies Landhaus hier. Ich hatte bisher geglaubt, es gäbe kein schöners Schloß als das unsrige, nunmehr wurd' ich eines Bessern belehrt.

Eines Tages ward mich der Großinquisitor in der Messe gewahr, er warf während des hohen Amts die lüsternsten, buhlendsten Blicke auf mich und ließ mir melden, er hätte mir etwas unter vier Augen zu sagen. Ich ward in seinen Palast gebracht, entdeckte ihm meine Herkunft; er stellte mir vor, wie weit es unter meinem Range wäre, einem Schuft von Juden anzugehören, und ließ dem Don Isaschar den Vorschlag tun, mich Ihro Hochwürden Gnaden abzutreten. Dazu wollte sich Don Isaschar nicht verstehn; der Mann ist Hof Wechsler und gilt viel. Der Inquisitor drohte ihm mit einem Autodafé.

Das wirkte; jagte meinen Juden ins Horn. Husch! schloß er einen Vergleich mit dem Pfaffen; vermöge dessen gehör' ich und Haus ihnen gemeinschaftlich; der Montag, Mittwoch und Schabbes ist dem Juden, die übrigen Tage in der Woche gehören dem Inquisitor.

Es ist nunmehr ein halb Jahr, daß dieser Kontrakt ist aufgesetzt worden. Unter der Zeit hat's manches Gezeter gegeben, denn sie konnten sehr oft nicht einig werden, ob die Nacht vom Sonnabend zum Sonntag nach dem alten oder neuen Testament müsse berechnet werden. Noch hab' ich keinen von beiden erhört, und eben deshalb glaub' ich, werd' ich noch von beiden geliebt.

Endlich ließen der Hochwürdige Herr Inquisitor ein Autodafé anstellen, sowohl, um dem Erdbeben zu steuern, als auch um dem Juden einen kleinen Schreck in die Glieder zu jagen. Er war so galant, mich zu dieser Feierlichkeit einzuladen und mir einen sehr guten Platz anzuweisen. In der Zeit, da die Messe war und da der Büttel sein Amt verwaltete, wurden den Damen Erfrischungen vorgesetzt.

Wie kalt fuhr mir's über den Nacken; als ich die beiden Juden verbrennen sahe und den ehrlichen Biskajer, der seine Gevatterin geheiratet hatte. Das war aber nichts gegen den Schauer und Schreck, der mich ergriff, als ich unter einem Skapulier und einer Schandmütze eine Figur gewahr ward, die dem Panglos so ähnlich sähe. Ich rieb mir die Augen, sähe stier und starr nach dem Manne hin; es war und blieb Panglos. Ich sah' ihn aufhängen und fiel in Ohnmacht.

Kaum hatten sich meine Sinne wieder ein wenig gesammelt, so erblickt' ich Sie, Kandide, ganz splitterfadennackt da stehn. Nun war der Kelch meiner Leiden voll; ich war nunmehr ganz ein Raub des Entsetzens und der Verzweiflung.

Im Vorbeigehn gesagt, Kandide, und zur Steuer der Wahrheit, Ihre Haut ist viel weißer als meines bulgarischen Hauptmanns seine, hat ein weit höhers, feiners Rot. Oh! wie bei diesem Anblick mein Jammer und meine Verzweiflung stieg, die in meinem Innern aufs grausamste wüteten. Ich schrie, wollte sagen: Haltet ein, ihr Barbaren! Das vermochte aber meine Zunge nicht; und was hätt' es auch geholfen?

Nachdem Sie waren tüchtig gestäupt worden, sagt' ich bei mir selbst: Wie muß der liebenswürdige Kandide und der weise Panglos nach Lissabon gekommen sein, jener um hundert Rutenstreiche zu empfangen, dieser um aufgehängt zu werden auf Befehl des Hochwürdigsten Inquisitors, dessen Liebling ich bin? Wie grausam hat mich Panglos hintergangen, daß er mir vordemonstrierte, diese Welt sei die beste.

Ich taumelte halb ohnmächtig nach Hause. In dem Aufruhr, worin meine Sinne waren, stiegen mir alle meine bisher erlebten Begebenheiten zu Kopfe; schob mir meine Phantasie mit hellen Farben gemalt die Würgeszenen vors Auge, die sich auf dem Schloß zugetragen.

Ich sahe deutlich, wie man meinen Vater schlachtete und meine Mutter und meinen Bruder, sahe, wie der garstge bulgarische Soldat so frech über mich herfiel und mich mit dem Säbel verwundete, wie ich Magd ward, aschenbrödeln mußte; sahe meinen bulgarischen Hauptmann, meinen häßlichen Don Isaschar, meinen abscheulichen Inquisitor und den guten Panglos, wie er aufgehängt wurde: noch immer gellte die widrige Musik in mein Ohr, während welcher Sie den Staupbesen bekamen, noch immer brannte der Kuß auf meinen Lippen, den Sie am Tage unsrer Trennung mir hinter der spanischen Wand gaben. Alles das umschwebte mich aufs lebhafteste. Ich pries nun Gott, der Sie nach so vielen Prüfungen mir wieder geschenkt hatte.

Ich hatte meiner Alten gleich während der Feierlichkeit anbefohlen, Ihrer aufs beste zu warten, Sie zu pflegen und bei schicklicher Gelegenheit herzubringen. Sie hat ihren Auftrag redlich erfüllt, und mich jetzt in ein Meer von Wonne versenkt.

Ich habe dich nun wieder, lieber Herzensjunge, höre dich, spreche dich, sitze neben dir. Doch dich muß hungern, armer Schelm, gewaltig hungern! Komm, laß uns essen. Es ist schon spät, und an Appetit fehlt mir's gar nicht.

Sie setzten sich zu Tische, und nach dem Abendbrot lagerten sie sich auf das besagte schöne Sofa. Noch lagen sie da in größter Behaglichkeit, als Signor Don Isaschar, einer von den Eignern des Hauses und des Mädchens, hereintrat, sowohl um seine Gerechtsame nicht verjähren zu lassen als auch um bei Kunegunden den zärtlichen Amoroso zu machen.

Kapitel 9 Was sich mit Kunegunden, Kandiden, dem Großinquisitor und einem Juden zuträgt

Ein gallevollers Geschöpf als diesen Hebräer hatte man seit der babylonischen Gefangenschaft in Israel nicht gefunden. Ha! schrie er, du bist mit dem Großinquisitor und mit mir nicht zufrieden? Mußt noch einen Schlafgesellen haben, du Galiläische Petze! Wart du! und auch du, du Hurenschelm!

Mit diesen Worten zuckte er ein Stilett, das er stets bei sich trug, und fiel auf seinen Gegner ein, den er wehrlos glaubte. Allein dieser wackre Westfale hatte von der Alten samt dem vollständigsten Anzuge einen schönen Degen bekommen. Den zog er, so kindfromm er auch war, und mausetot lag der Israelit zu den Füßen der schönen Kunegunde.

Avacena