Über Christian Lammert und Boris Vormann

Christian Lammert ist Professor für die Innenpolitik Nordamerikas am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsgebieten gehören die politischen Systeme in den USA und Kanada sowie die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung.

Boris Vormann ist Professor für Politikwissenschaften am Bard College in Berlin. Seine Forschung befasst sich vergleichend mit der Politik Nordamerikas und Staat-Markt-Beziehungen im Kontext von Globalisierungs- und Urbanisierungsprozessen.

Informationen zum Buch

Die Krise als Chance?

Trump, Brexit, Erdogan – Populisten scheinen weltweit auf dem Vormarsch. Zugleich ist aber auch ein Erstarken des politischen Bewusstseins in der breiten Bevölkerung zu verzeichnen. Birgt die Krise der Demokratie auch eine Chance zur politischen Erneuerung?

»Sich abgehängt fühlen und nicht mehr gehört zu werden, dieser weitverbreitete Eindruck ist zentrale Konsequenz der Politik der Alternativlosigkeit. Sie schafft den Unmut und die Wut auf die da oben – und veranlasst zur Suche nach Alternativen um fast jeden Preis, offensichtlich auch nach undemokratischen.« Aus: Die Krise der Demokratie.

Im Wahlsieg Donald Trumps, dem Brexit und dem Erstarken von populistischen Bewegungen auf beiden Seiten des Atlantiks manifestiert sich eine immanente Krise des Liberalismus. Das Heilsversprechen der neoliberalen Revolution – individuelle Freiheit und Selbstbestimmung – ist für viele ausgeblieben. Das Gemeinwesen westlicher Demokratien ist durch die Fliehkräfte des Marktes zersetzt worden. Doch zugleich keimt auch der Samen einer emanzipatorischen Politik: Mit weltweiten Aktionen, wie dem Women’s March, protestieren liberale Kräfte gegen die menschenverachtende Haltung des neuen amerikanischen Präsidenten und seiner Gesinnungsgenossen. Christian Lammert und Boris Vormann zeigen die Alternative zur vermeintlichen Alternativlosigkeit auf.

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Christian Lammert • Boris Vormann

Die Krise der Demokratie und wie wir sie überwinden

Inhaltsübersicht

Über Christian Lammert und Boris Vormann

Informationen zum Buch

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Vorrede

1. Alternativen zur Alternativlosigkeit

Wie ist es dazu gekommen?

Konturen der Krise

Der Liberalismus im Ungleichgewicht

Wo sind all die Progressiven hin?

Weshalb die Kritik nicht greift

Zwischen Alter und Neuer Welt

2. Am Ende des Dritten Wegs

Die Politik der Alternativlosigkeit

Das große Versprechen

Die beste aller möglichen Welten

Der Sachzwang und der Dritte Weg

An der Wegscheide

Die Krise als Gegenbewegung

Das Erstarken der Politik

3. Über die Demokratie in Amerika

Der amerikanische Sonderweg

Die ideelle Krise

Die Gefahren des Individualismus

Der Kitt heterogener Gesellschaften

Der Zusammenhalt bröckelt

Der residuale Wohlfahrtsstaat

Reform und institutionelle Krise

Die ökonomische Krise

Die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008

Vom Markt abhängig

Die Zukunft der Arbeit

Die politische Krise

Polarisierung

Das System hebelt sich aus

Verlierer und Gewinner

4. Europa: Uneins und Teilbar

Die schleichende Krise

Europas Geburtsfehler

Schlag auf Schlag: Finanz- und Eurokrise

Die Erfindung der Staatsschuldenkrise

Die Eurokrise spitzt sich zu

Unzufriedenheit macht sich breit

Flüchtlinge und Terrorismus

Europa als politisches Projekt

5. Am Anfang der Geschichte

Warum die Krise nicht vorbei ist

Eine Krise oder viele Krisen?

Die Nation: Antwort auf alle Fragen?

Die Nation als Solidaritätsgemeinschaft

Nationale Strategien

Ein neuer sozialer Pakt

Konturen eines globalen Föderalismus

Gefragt sind wir

Anmerkungen

Dank

Impressum

FÜR LARA UND JANET

Vorrede

Ist der Geist schon aus der Flasche? Sind die Dämonen der Vergangenheit nicht mehr zu bändigen, die Trump und seine Freunde in Europa heraufbeschworen haben; der Fanatismus, der Rassismus und die Hetze? Es stimmt, blickt man auf die völlig enthemmten Kundgebungen der Ku-Klux-Klan-Mitglieder und White Supremacists in Charlottesville im August 2017 oder das Erstarken extremistischer Gruppierungen in ganz Europa: Die Krise der Demokratie scheint zu mutieren und in eine neue Phase einzutreten. Natürlich lassen sich diese Auswüchse nicht mehr einfach nur mit Abstiegsängsten erklären. Es geht um eine viel weitergreifende Angst und auch um Gesinnung und Hass. Wir fragen nach dem Klima, in dem Demagogen und Fanatiker erstarken.

Wenn Trump also selbst zur Krise geworden ist, geht es uns viel mehr um den Trumpismus, der an dessen Ursprung steht. Das ist weniger kompliziert als es klingt. Dieses Buch befasst sich mit den Umständen, die zur Krise der Demokratie geführt haben; mit den seit Jahrzehnten steigenden Ungleichheiten, der Entpolitisierung der Politik und der Dominanz der Märkte. Nicht mit der Frage, ob Donald Trump ein Feind der Demokratie ist, sondern wie es dazu kam, dass er gewählt werden konnte und was seine Wahl mit dem Brexit und anderen neonationalen Bewegungen gemein hat. Diese Grundursachen müssen angegangen werden, wenn die Krise an der Wurzel gepackt werden soll. Ist es dafür schon zu spät? Angesichts der schwelenden Konflikte und der grassierenden Angst, die unmündig macht und vereinzelt? Wir glauben es nicht. Und wir dürfen es nicht glauben.

Gesellschaften werden sich neu definieren müssen, um aus der Krise hinauszufinden und um den Gefahren von Innen und Außen zu begegnen. Dies sind turbulente Zeiten. Wir bemühen uns, Wege aus der Krise aufzuzeigen. Der neue soziale Pakt, der dazu nötig sein wird, kann nicht das Werk Einzelner sein. Um wehrhaft zu sein gegen islamistischen Terror, Demagogen und Fanatiker, müssen Demokratien Aufstiegschancen bieten und einem Prinzip der Gerechtigkeit folgen. Der Moment der Krise eignet sich, über einen grundlegenden Wandel nachzudenken. Dazu braucht es einen kühlen Kopf und eine neue Zuversicht. Und es braucht eine Debatte über die Zukunft unserer Gesellschaft, zu der wir mit unserer Kenntnis der sozialen und politischen Systeme einen kleinen Beitrag leisten wollen.

1. Alternativen zur Alternativlosigkeit

Washington D.C., den 20.1.2017: Trump tritt an das Rednerpult auf dem Westflügel des Kapitols. Hinter ihm frühere Präsidenten und das Establishment, gegen das der neu gewählte Präsident die vergangenen Monate gewettert hatte. Vor ihm eine Menge von Schaulustigen, die eine sehr außergewöhnliche Antrittsrede zu hören bekommen. Außergewöhnlich? Üblicherweise dienen diese Ansprachen dazu, die Grabenkämpfe des Wahlkampfes hinter sich zu bringen, die Spaltung des Landes zu überwinden und geeint die aktuellen Herausforderungen anzugehen. Jeder amerikanische Präsident des 20. Jahrhunderts hat sich an dieses Ritual der Wiederversöhnung gehalten, das den eigenen Auftrag in den Dienst des Gemeinwohls stellen und in das Narrativ einer glorreichen nationalen Geschichte einreihen soll. Der Dank an den vorherigen Präsidenten und die Würdigung der friedlichen Übergabe demokratischer Macht sind fest im Protokoll des Amtsantritts verankert. Eigentlich nichts Besonderes, sondern vor allem viel Symbolpolitik.

So dachte man. Doch Trump hatte andere Pläne. Gleich in den ersten Sätzen seiner Rede hob er, nach einem flüchtigen Dank an seinen Vorgänger Barack Obama, die besondere Bedeutung seiner Präsidentschaft hervor: »Denn heute übergeben wir die Macht nicht nur von einer Regierung an die nächste oder von einer Partei an die andere, nein, heute übertragen wir die Macht von Washington D.C. zurück an Euch, das amerikanische Volk.« Die Miene Obamas, den man im Kamerablick während der ganzen Rede im Hintergrund Trumps beobachten konnte, verfinsterte sich spätestens mit den nächsten Sätzen: »Zu lange hat eine kleine Gruppe in der Hauptstadt unseres Landes die Früchte des Regierens geerntet, während die Bevölkerung die Kosten dafür getragen hat. Washington blühte und gedieh, aber die Bevölkerung bekam von dem Reichtum nichts ab.«1

Dass Trump kein gewöhnlicher Präsidentschaftskandidat war, wusste man zuvor. Doch viele hofften, das Amt würde ihn schnell prägen. Trumps Antrittsrede auf dem Kapitol war ein erstes Zeichen dafür, dass diese Hoffnungen fehl am Platz waren. Außerdem deutete sich bereits zu jenem Zeitpunkt an, dass die Krise der Demokratie sich nicht auf die USA beschränken würde. Auch andere Neonationalisten sahen ihre Stunde gekommen. Trump-Günstling Nigel Farage, der ehemalige Parteichef der britischen rechtsnationalen UK Independence Party (Ukip), war beim Amtsantritt auch in Washington D.C. Den Erfolg Trumps wertete er als Omen für die Renationalisierung auf der europäischen Seite des Atlantiks: »Der Brexit war der erste Stein, der aus der Mauer brach, und der Sieg von Trump war ein weiterer Brexit aus dem Gefüge der globalen Szenerie.« Diese Dynamik würde wiederum ihre Fortsetzung in Europa finden, beispielsweise im italienischen Referendum, in dem »das Volk mit einer Bazooka eine ganze Salve gegen das Pro-EU-Establishment abgefeuert [hat] und so denjenigen, die sich gegen den Zentralismus der Macht wehren und gegen die Strenge und die Vorschriften Brüssels auflehnen, eine Stimme« gab.2

Wenig überraschend war es also, dass sich am Tag nach Trumps Antrittsrede in Koblenz das Who-is-Who der europäischen Rechtspopulisten traf, um die gemeinsame Sache zu beschwören. Marine Le Pen, Anführerin des Front National in Frankreich, sprach triumphierend von 2017 als dem Jahr, »in dem die Völker des europäischen Kontinents erwachen.« Dem Publikum, das während ihrer Rede immer wieder skandierte »Merkel muss weg, Merkel muss weg« rief sie zu: »Wir erleben das Ende einer Welt und die Geburt einer neuen.«3 Und ganz ähnlich wie bei Trump ist bei dieser Wiedergeburt der Nationalismen in Europa das Element der Angst zentral, ob nun vor der »Islamisierung«, die auch im »stolzen Deutschland« den Frauen Angst mache, »ihr blondes Haar zu zeigen« – wie der niederländische Demagoge Geert Wilders bei jenem Anlass betonte4 – oder vor der Europäischen Union, die »am Anfang […] nur die Krümmung der Gurke normiert« hat und am Ende »gerne unsere Gedanken normieren« würde, wie Frauke Petry von der Alternative für Deutschland (AfD) hervorhob.5

Doch woher die Offenheit für Populisten? Wie konnte es zum Erstarken der Rechtsnationalen kommen? So plötzlich? Aus dem Nichts? Nur in einem schienen sich nach dem turbulenten Frühjahr 2017 die meisten Kommentatoren des politischen Geschehens auf beiden Seiten des Atlantiks einig: Sie hätten den Aufstieg der Neonationalisten nicht für möglich gehalten.

Wie ist es dazu gekommen?

Spulen wir zurück, an den Abend der US-Präsidentschaftswahlen. In der Nacht des 8. November 2016, als sich das Wahlergebnis allmählich abzeichnete, zeigten die Medien Bilder, die unterschiedlicher kaum hätten sein können. In einem fensterlosen Hotelsaal in Midtown Manhattan auf der einen Seite eine kleine Schar frenetischer Trump-Anhänger mit roten Baseballmützen, auf ihnen der Slogan »Make America Great Again.« Die internationale Presse wird nicht in den Raum gelassen, um mit der überschaubaren Gruppe die improvisierte Siegesrede des überraschten President-Elect zu verfolgen. Einige hundert Meter weiter ein ganz anderer Anblick. Im pompösen Javits Center mussten siegessichere Clinton-Anhänger unter Begleitung aufmunternder Blaskapellenmusik einen Einzelstaat nach dem anderen schwinden sehen – North Carolina, dann Wisconsin, dann Michigan – und letztlich vom Wahlkampfleiter John Podesta aufgefordert werden, den Saal zu verlassen, ohne dass sie ihre Kandidatin, Hillary Clinton, zu Gesicht bekommen hätten. Zu sehr hätte sie die unerwartete Niederlage gegen einen grotesken Außenseiter getroffen, vernimmt man in den Tagen danach.

Keiner hat Trump kommen sehen. Selbst Trump nicht. Hillary Clinton steckte der Schock noch Tage später in den Knochen. Keiner der Experten hatte dem exzentrischen Immobilienmilliardär auch nur die geringste Chance eingeräumt. Zu Beginn des Wahlkampfs wünschte man sich in Clintons Team Trump sogar geradezu als Gegner – so wenig sah man ihn als ernst zu nehmende Konkurrenz. Nate Silver, der Zahlen-Guru für politische Vorhersagen, lag wie alle anderen auch mit seiner Prognose meilenweit daneben. Noch am Abend der Wahl berechnete man die Wahrscheinlichkeit, dass Clinton gewinnen würde, auf der Frontseite etablierter Medien wie der New York Times oder Politico als über 90-prozentig.

Und dennoch gewann Trump.

Doch war der Wahlausgang tatsächlich so überraschend? Schon Monate zuvor hatte man ja beim Brexit ein ganz ähnliches Muster beobachten können. Auch da schien am Vorabend der Entscheidung alles eindeutig. Am nächsten Morgen dann das unerwartete Wahlergebnis, der Schock. Die Neonationalisten der Ukip-Partei jubelten. Und auch anderswo hat sich eine ganz ähnliche Abkehr vom Status quo vollzogen. In Frankreich gelang der rechtsextremen Partei des Front National unter der Führung Marine Le Pens tatsächlich der Einzug in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen. Dieser Gesamteindruck einer Krise der Demokratie erhärtet sich auch, blickt man über die Grenzen Europas und der USA hinaus. Jenseits der Länder, die sich in der Vergangenheit oft mit ihrer demokratischen Tradition gebrüstet haben, wird tiefer im Osten schon seit geraumer Zeit von der sogenannten souveränen Demokratie Russlands und Orbans illiberaler Demokratie in Ungarn gesprochen. Auch die Türkei hat sich unter Erdoğan von der eigenen demokratischen Tradition abgewendet, während manche am Beispiel Chinas sogar zu erkennen glauben, dass Wirtschaftswachstum ohnehin mit Demokratie nicht vereinbar sei – man auf letztere also durchaus auch verzichten könne: im Interesse aller.

Doch neu ist, dass eben auch die Vereinigten Staaten und die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Länder also, die man vor nicht allzu langer Zeit noch als funktionierende, ja vorbildliche Demokratien bezeichnet hätte, ins Straucheln geraten sind. Die sich hier zeigende Krise ist Ausdruck gespaltener und immer ungleicher werdender Gesellschaften, die sich den Kräften der Märkte ausgeliefert und von den Vorzügen der Globalisierung abgekoppelt fühlen. Die Krise der Demokratie äußert sich in einigen Ländern direkt in der Zentralisierung von Macht auf einzelne Führungspersönlichkeiten. In den meisten in einem Mangel an Rechenschaft der Eliten gegenüber ihrer Wählerschaft. Im transatlantischen Kontext zeigte sich das Verlangen nach starken Persönlichkeiten, die einen Weg aus der tief empfundenen ökonomischen und sozialen Krise versprechen, in den USA war dies Trump auf Seiten der Konservativen und Bernie Sanders bei den Progressiven. Beide mobilisierten mit einer Kritik am politischen Establishment und Forderungen nach einem tiefgreifenden politischen Wandel. Sanders sprach sogar von einer »politischen Revolution« und bezeichnete sich selbst als einen Sozialisten – eigentlich in den USA, dem Land, in dem es keinen Sozialismus gegeben haben soll, der sichere politische Suizid.6

Aber worin genau liegt denn überhaupt die Krise? Ist die Empörung einfach nur eine allergische Reaktion des Bildungsbürgertums und Linksintellektueller darauf, dass ihre Favoriten nicht siegreich aus den Wahlen hervorgegangen sind? Ist das nicht genau der Sinn von Demokratie, dass es einen Pluralismus von Meinungen gibt? Sind Trump und der Brexit, anders ausgedrückt, nicht ein Ausweis für das Funktionieren der Demokratie?

In der Tat handelt es sich nicht primär um eine institutionelle Krise. Trump ist ja demokratisch ins Amt gewählt worden, die etablierten Kontrollmechanismen scheinen (noch) zu greifen und es regt sich politischer Widerstand gegen seinen absolutistischen Führungsanspruch. Das stimmt. Und dennoch ist ganz klar: Wir haben es mit einer handfesten Krise der Demokratie zu tun, die jedoch nur verstehen kann, wer weiter zurückblickt als nur auf die Ereignisse der letzten Monate. Denn die Ursachen der Krise der Demokratie liegen weit tiefer als nur im Aufstieg der Demagogen, der Autokraten und der Oligarchen. Jener Siegeszug der Populisten ist ein Symptom der Krise, nicht ihr Ursprung. Das ist entscheidend: Sie sind die Folge einer Krise der Demokratie, sie sind sie nicht selbst. Das Versagen liegt dabei nicht allein bei denen, die nun antidemokratische Politiker wählen (bei denen jedoch auch), sondern bei einer Politik der letzten Jahrzehnte, die sich von den Interessen weiter Teile der Gesellschaft entfernt hat.

Konturen der Krise

Sind die Entwicklungen in den USA Vorboten eines Niedergangs der Demokratie, auf den wir uns auch in Europa gefasst machen müssen? Selbst wenn in den Niederlanden und in Frankreich mit Müh und Not eine Regierung der Ultrarechten noch abgewendet werden konnte? Wie unterscheidet sich die Krise der Demokratie im europäischen Kontext von jener in den Vereinigten Staaten? Und schließlich, wie kann sie überwunden werden?

Unsere These ist so simpel wie radikal. Wir argumentieren, dass der Kern der Krise in einer Politik der Alternativlosigkeit liegt. Sie hat in den letzten vier Jahrzehnten den Markt über die Politik und den Staat gestellt und geht davon aus, dass dem Gemeinwohl am besten durch die Effizienz privater Akteure geholfen sei. Öffentliche Güter tut sie als Verschwendung von Steuergeldern, staatliche Eingriffe als unbeholfene Störsignale ab. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik, so der Duktus der Politik der Alternativlosigkeit, müsse sich den Gegebenheiten der Globalisierung anpassen. Jeder ist auf sich allein gestellt, in dieser schönen, neuen Welt der Märkte, sowohl, was sein Glück, als auch, was sein Unglück anbelangt.

Zum einen ist dies daher eine Krise der politischen Praxis. Im Namen der Demokratie entfesselte man zunächst in den USA und Großbritannien die Märkte. Nach dem Fall der Mauer folgte man in anderen Ländern Europas und der Welt auf dem Fuße und überließ Teile des Bildungs-, Sozial-, und Gesundheitswesens dem Privatsektor. In einer Reihe von Schocks wurden die Gedankenexperimente neoliberaler Vorreiter – der sogenannten Chicago Boys – in die Tat umgesetzt.7 Eigentlich sollten die Märkte dem paternalistischen Staat einen Riegel vorschieben, den Faschismus und den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts ein für alle Mal beenden. Doch auf dem Boden fragmentierter Gesellschaften, in dem Privatinteressen regieren und das Gemeinwohl brüchig geworden ist, sind in jüngster Zeit neue Gefahren für die Demokratie erwachsen.

Soziale Mobilität, das Versprechen des sozialen Aufstiegs also, war das erste und vielleicht wichtigste Opfer des Siegeszugs der Märkte gegenüber allem Politischen und Sozialen. Ein weiterer Kollateralschaden des Triumphzugs der Märkte war die Responsivität der gewählten Vertreter: Die Politik hört oftmals nur noch auf die Interessen der Märkte, während alle anderen gesellschaftlichen Stimmen kaum mehr wahrgenommen werden. Sich abgehängt zu fühlen und nicht mehr gehört zu werden, dieser weitverbreitete Eindruck ist zentrale Konsequenz der Politik der Alternativlosigkeit, in der Kaufkraft und Wachstum zum Mantra öffentlichen Handelns mutiert sind. Sie schafft den Unmut und die Wut auf die da oben – und veranlasst zur Suche nach Alternativen um fast jeden Preis, offensichtlich auch nach undemokratischen.

Als Katalysatoren dieser längerfristigen Entwicklung auf beiden Seiten des Atlantiks wirkten dann in den letzten Jahren mehrere Schocks: die Finanzkrise, in der trotz der Mangelwirtschaft öffentlicher Haushalte genug Geld zur Banken- und Gläubigerrettung gefunden wurde; in Europa zudem noch die Eurokrise, die das Gefälle zwischen Nord und Süd in aller Schärfe deutlich machte; der Terrorismus, der die Angst vor einer Öffnung zur Welt noch weiter schürte; die Flüchtlingskrise, die mit dem Terror in Verbindung gebracht wurde und die Abschottung demokratischer Gesellschaften verschärfte. Dazu kamen aufbegehrende Rechtsnationalisten, die in Deutschland nicht davor zurückschreckten, Gewalt anzuwenden und Flüchtlingsheime niederzubrennen, die in Frankreich auch politisch salonfähig geworden zu sein scheinen, ja, die es in den USA sogar vermocht haben, in höchste Regierungsämter vorzudringen.

Die Krise der politischen Praxis ist im Kern Folge der Verlagerung aller politischen Entscheidungen in die Sphäre des Marktes. Hinter der Politik der Alternativlosigkeit steht daher auch die Entpolitisierung demokratischer Prozesse. Es gibt nur noch die eine gute Politik, und wir brauchen nur die richtigen Experten, um sie umzusetzen. Technokratische Regierungen scheinen heute aber für große Teile der Gesellschaft nicht mehr tolerierbar zu sein. Die Polarisierung am rechten und linken Spektrum der Politik – denn auch Sanders, Podemos und Syriza sind Ausdruck der Krise der Demokratie – spiegelt diese Frustration über den Status quo wider. Wählerschaften und Zivilbevölkerungen sehnen sich nach einer neuen Politik. Und dies aufgrund der steigenden Krisenfrequenz der letzten Jahre, mit Nachdruck und jetzt.

Der Liberalismus im Ungleichgewicht

Trotz allem Anlass zur Sorge: Inmitten der Krise wächst damit auch die Hoffnung auf eine andere Welt. Nach Jahren der politischen Apathie in den alten Demokratien auf beiden Seiten des Atlantiks regt sich die Zivilgesellschaft. Die Partizipation bei Wahlen und Demonstrationen steigt. Das Gemeinwesen westlicher Demokratien ist zwar durch die Fliehkräfte der Märkte zersetzt worden, doch in den unterschiedlichen nationalen Kontexten keimt zugleich auch der Samen einer emanzipatorischen Politik: Die Skizze einer Alternative zur Alternativlosigkeit.

Die Krise der etablierten Demokratie wird von manchen als eine Restauration der Ewiggestrigen, eine chauvinistische Reaktion auf die Liberalisierung der letzten Jahrzehnte gesehen.8 Vielleicht ist sie aber auch ein Aufbruch zu demokratischeren Gesellschaften? Die Antwort auf diese Frage ist noch nicht entschieden – und sie hängt in erster Linie davon ab, welche Rolle der Politik und demokratischen Institutionen in der Zukunft zugeschrieben werden wird.

Deshalb ist es entscheidend, auch die Weltanschauung zu überdenken, die zur Krise der Demokratie geführt hat. Denn diese Krise ist auch eine ideologische. Die Politik der Alternativlosigkeit hat ihr Pendant in einem verzerrten liberalen Marktdenken, das über die letzten Jahrzehnte zur Einheitsdenke politischer und wirtschaftlicher Eliten verkommen ist. Wer der Krise der Demokratie auf den Grund gehen möchte, kommt daher nicht am Begriff des Liberalismus vorbei, der diese Einheitsdenke auf den Punkt bringt. Aber dieser kann verwirren, nicht zuletzt, weil er in den USA ganz anders verwendet wird als in Europa. Während man in Deutschland zumeist an die FDP denkt, wenn von Liberalen die Rede ist, meint man in den USA mit einem ›liberal‹ einen Demokraten, also im eigentlichen Sinne nach europäischem Denken eher einen Sozialdemokraten. Noch komplizierter wird es, wenn der ohnehin überreizte Terminus ›Neoliberalismus‹ fällt, der zumeist als Etikett für die marktfreundliche Politik der letzten Jahrzehnte benutzt wird.

Beim Liberalismus handelt es sich zugleich um eine politische Philosophie, eine Ideologie und eine politische Praxis. Diese Mehrfachbedeutung ist für einen Großteil der Verwirrung verantwortlich. Wir meinen mit Liberalismus etwas sehr Präzises: eine Weltanschauung, die Märkten grundsätzlich eine hohe Priorität einräumt. Der Liberalismus sieht den Markt als wichtigsten Mechanismus, um die Zentralisierung von Macht im Staat zu verhindern und die Rechte von Individuen zu schützen. Diese Idee ist im Europa des 18. Jahrhunderts entstanden und hat – das ist entscheidend – zwei verschiedene Ausprägungen erfahren: eine wirtschaftliche und eine politische. In der dominanten Wirtschaftsideologie seit den späten 1970er-Jahren, dem Neoliberalismus, ist es zu einem Ungleichgewicht zwischen diesen beiden Dimensionen des Liberalismus gekommen, mit der unmittelbaren Konsequenz, dass Politik in den Hintergrund gerückt, ja alternativlos geworden ist. Darin liegt die ideologische Krise der Demokratie.

Was genau macht dieses so folgenreiche Ungleichgewicht innerhalb des Liberalismus aus? Wo der politische Liberalismus den Markt als Mittel zum Zweck einer freien und demokratischen Gesellschaft sieht, ist er für den wirtschaftlichen Liberalismus reiner Selbstzweck: Freie Märkte und die Zurückdrängung des Staates sind in dieser Denkrichtung an und für sich erstrebenswert. Innovation, Effizienz und Produktivität sind die Schlagworte, die hier immer wieder zur Rechtfertigung genannt werden, und schon scheint es plausibel, Gesellschaften nach marktwirtschaftlichen Prinzipien zu organisieren. Bei aller Alternativlosigkeit ist allerdings eine Lektion des politischen Liberalismus und der Reformpolitik zur Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert in Vergessenheit geraten: Politik muss sich in Demokratien an den Interessen der Bevölkerung orientieren, Märkte und Partikularinteressen können eine solche Politik unterwandern.

Wir meinen, dass die ökonomische Philosophie der Märkte die politischen Ideen des Liberalismus mit der Zeit ad absurdum geführt hat. Politik wird deshalb neu erfunden werden müssen, um dem Politischen mehr Raum zu geben. Um also Demokratie und gewisse Rechte nicht als Kollateralschäden der Märkte, sondern als Werte an sich zu begreifen. In dem Sinne kann dieses Buch auch als eine immanente Kritik des wirtschaftlichen Liberalismus verstanden werden – und als Plädoyer für eine Rückbesinnung auf den politischen Liberalismus.

Nun könnte man einwenden, dass auch die Ideale des politischen Liberalismus, wie Gleichheit und Demokratie, nie völlig in der politischen Realität angekommen sind. Es ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen, dass diese Ideale historisch oft für die falschen Zwecke instrumentalisiert wurden – nicht zuletzt um Gesellschaften gefügig zu machen. Natürlich ging es dem politischen Liberalismus auch immer um Ideale, die nie erreicht wurden. Die Gründungsväter der USA, die viele der Ideen des politischen Liberalismus teilten, waren zum einen eben Väter, nicht Mütter, und zum anderen auch noch Sklavenhalter. Mit Gleichheit meinten sie die Gleichheit von weißen Grundbesitzern. Als Mill und Tocqueville ihre Texte schrieben, war die Sklaverei noch weit verbreitet. Ein Frauenwahlrecht gab es trotz der progressiven Bewegungen des späten 19. Jahrhunderts erst in den 1910er-Jahren, tatsächliche Gleichberechtigung der Afro-Amerikaner in den Vereinigten Staaten brachte erst die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre. Und bis heute bleibt der Rassismus strukturell, bleiben auch die gesellschaftlichen Chancen von Frauen und Männern ungleich, sowohl in den USA als auch in Europa.9 Für manche ist die Krise der Demokratie deshalb ein Dauerzustand. Für sie dürfte es fast zynisch wirken, erst jetzt von einer Krise zu sprechen, da auch weiße Männer von ihr betroffen sind. In dem Sinne macht der jüngste Fokus auf die »Verlierer der Globalisierung« auch vergessen, dass die Globalisierung immer Verlierer produziert hat. Und dass die Trump- und Brexit-Wähler eine ganz bestimmte Sorte von Verlierern sind, nämlich keine Frauen und Minderheiten.

Dennoch: der politische Liberalismus hat zumindest Ideale artikuliert, die von sozialen Bewegungen auch eingefordert werden konnten. Diese Ideale eröffneten Suffragetten, Bürgerrechtlern und anderen sozialen Bewegungen einen Resonanzboden, um die eigenen Ziele durch eine Kritik an der Diskrepanz zwischen politischer Rhetorik und Praxis zu formulieren. In diesem Sinne ist Demokratie ein Streben nach Gleichheit und Freiheit, weniger ein Endzustand. Es braucht den politischen Idealismus und politische Werte, um die Realität anprangern zu können. Und es braucht ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Kräften, um Demokratie möglich zu machen. Diese Balance ist eine Frage der realen Politik, aber sie beginnt mit der Abkehr vom Marktdenken.

Denn wenn alle politischen Ziele selbst in der Sprache der Ökonomie gefasst werden – wie es gegenwärtig der Fall ist –, wenn also politischer Erfolg einzig an Wirtschaftswachstum und Arbeitslosenzahlen festgemacht wird, dann entscheidet der Markt und nicht die politische Auseinandersetzung, dann werden die Erfolge früherer Proteste und vergangener Emanzipationsbewegungen zu Pyrrhussiegen. Der Markt verschleiert politische Debatten und verwandelt sie in technische Fragen, bei denen es nur noch um Effizienz, und nicht mehr darum geht, was die Gesellschaft wirklich eint. Der Wirtschaftsliberalismus hat in seiner neoliberalen Spielart in den letzten Jahrzehnten den politischen Liberalismus verschlungen und alle Forderungen nach politischer Emanzipation in Konsum- und Lifestylefragen verkehrt. Wie das geschehen konnte – und wie wir diesem Dilemma entrinnen können – steht im Fokus unseres Buches.

Wo sind all die Progressiven hin?

Gegenwärtig scheint es fast so, als käme Kritik am Neoliberalismus nur von rechts. Trump, Brexit und autoritäre Bewegungen in Osteuropa und in der Türkei stellen Parallelbewegungen auf der Linken wie die Indignados, Podemos und Occupy Wall Street in den Schatten, zumindest wenn es um politische Machtentfaltung geht. Warum hat man es nur auf der Rechten verstanden, die Kritik in weiten Teilen der Gesellschaft am Neoliberalismus zu hören? Warum scheinen nur rechtsnationale Bewegungen fähig, ihre Forderungen in die Realität umzusetzen? Gibt es womöglich gar keine progressive Kritik der Politik der Alternativlosigkeit? Und wenn es sie gibt, warum ist der Neoliberalismus dann so beharrlich?

Wer einen Blick auf die Sachbuchbestsellerlisten der letzten Jahre wirft, merkt schnell: Warnungen gab es sehr wohl, auch und vor allem von links. Kritiken der politischen Ökonomie sind seit der Finanzkrise von 2008 zum eigenen populären Genre im öffentlichen Büchermarkt avanciert. Politikwissenschaftler und Wirtschaftssoziologen erläutern unter anderen in großer Breite und Tiefe zentrale Themen wie etwa die Ursprünge der Finanzkrise, das vermeintliche Ende des Neoliberalismus, das Scheitern des Krisenmanagements und die mögliche Zukunft des Kapitalismus.10

Die Nachteile der Globalisierung und die Gefahren, die von Ungleichheiten ausgehen und die Stabilität von Gesellschaften bedrohen, sind über die letzten Jahrzehnte von vielen Autoren sowohl in Europa als auch in Nordamerika konstatiert, analysiert, und angeprangert worden.11 Nach der globalen Finanzkrise explodierte das Thema. Nicht mehr nur Wissenschaftler und ein fachlich interessiertes Publikum widmeten sich den Ungleichheiten und deren Gefahren. Die Debatten wurden zum Dauerbrenner und Autoren wie Piketty und Blyth weltbekannt.12 Mit Trump und den neonationalistischen Tendenzen in Europa und den USA nahm die Diskussion um das mögliche Scheitern des Neoliberalismus weiter Fahrt auf – und auch die Frage, ob er überhaupt scheitern könne.

In dieser Kritik am Neoliberalismus ging es zum einen um eine Kritik am Markt, die im Wesentlichen auf die negativen Konsequenzen der Ökonomisierung von Gesellschaften abzielte – eine Tendenz, die laut einer ganzen Reihe von Autoren die Demokratie gefährdet. Nicht alles könne ohne Weiteres als Ware gehandelt (also kommodifiziert) werden. Es gebe Grenzen des Marktes. Zum einen, weil wir nicht wollen, dass manche Güter vom Markt bereitgestellt würden. Beispielsweise ist Kinderarbeit gesellschaftlich in vielen Ländern nicht mehr toleriert, Organhandel wird ebenso in vielen Gesellschaften als moralisch problematisch betrachtet und deshalb staatlich unterbunden.13 Zu diesen ethischen Grenzen des Marktes kommen aber auch technische Grenzen, die im Detail dargestellt und erläutert wurden: Märkte sollten deshalb reguliert werden, so die Kritik, weil sie gewisse Güter nicht in ausreichendem Maße bereitstellen könnten. Selbst Ökonomen, ganz gleich welcher Couleur, sprechen von Marktversagen, wenn beispielsweise Fabriken ihren Abfall in öffentliche Gewässer kippen und damit ihre Entsorgungskosten auf die Allgemeinheit abwälzen (Externalisierung) oder wenn Märkte nicht funktionieren, weil Güter wie frische, saubere Luft, nationale Sicherheit oder andere öffentliche Güter nicht von einzelnen privaten Akteuren gewährleistet werden können.14

Kernaussage der Literatur zum Marktversagen: wenn Märkte alle Lebensbereiche erschließen, kommt es zu ethischen und gesellschaftlichen Problemen. Hinzu kommt, dass die Marktförmigkeit von Gesellschaften selbst ein politisches Problem darstellen kann. Nancy Fraser, Jamie Peck, Fran Tonkiss und Don Slater gehören zu einer ganzen Reihe von Autoren, die unterstreichen, dass die Logik des Marktes eben nicht grundsätzlich der Logik der Demokratie entspricht. Ähnlich argumentiert Wendy Brown in ihrem jüngsten Buch, dass die Technokratisierung, wie sie sich beispielsweise im Bildungswesen, in der Justiz und im politischen Diskurs durchsetzt, wahre Politik unmöglich macht.15

Die Kritik am Staat, eine zweite Dimension der kritischen Literatur zum Neoliberalismus, ist anders gelagert, ergänzt aber dieses Argument gegen den zügellosen Markt. Sie richtet sich vor allem gegen eine bestimmte Politik, die Ungleichheiten verschärft und Demokratie unterminiert. Dass Austeritätspolitik gefährlich sei und dass Ungleichheiten demokratische Institutionen delegitimierten, wird von einem Teil der Kritiker moniert. Durch die Spardoktrin der letzten Jahrzehnte seien das öffentliche Gut geschröpft und die Möglichkeiten zur politischen Teilhabe reduziert worden. Hinzu kommt, dass die wachsenden Ungleichheiten auch zu ungleicher Einflussnahme auf die Politik geführt haben. Responsivität, das Ausmaß also, mit dem die politischen Repräsentanten noch auf die Interessen ihrer Wählerklientel eingehen, verteilt sich extrem ungleich. Gehört werden im politischen Prozess nur noch die Superreichen, die Interessen der Mittelklasse und der unteren Einkommensgruppen werden als Hintergrundrauschen kaum mehr wahrgenommen.16 Wahlen verkommen zum öffentlichen Spektakel in der Demokratie, politische Entscheidungen werden hinter verschlossenen Türen durch Lobbyisten maßgeblich mitbestimmt.17

Einige dieser Autoren betonen deshalb, dass der Staat sehr wohl noch ein wichtiger Akteur sei, trotz der Globalisierung, der nach wie vor rechenschaftspflichtig gegenüber der Bevölkerung sein sollte, da er mit der Konstruktion von Infrastrukturen, den Investitionen in Forschung und Bildung und der teils unsichtbaren Einflussnahme auf Ressourcenverteilung einen gehörigen Anteil am gesellschaftlichen Wohl trägt. Insbesondere wenn es um die Umverteilung nach oben geht, besonders eklatant im Nachgang zur Finanzkrise von 2008, müsse der Staat im Sinne des Gemeinwohls, nicht der wohlhabenden Partikularinteressen handeln. Letzteres ist jedoch in Europa und in den USA nach jener Krise passiert: die Kosten und Schulden der Privatwirtschaft wurden auf die Öffentlichkeit abgewälzt. Mark Blyth spricht mit Blick darauf vom größten Taschenspielertrick der Geschichte. Angesichts der jetzigen Gegenbewegungen und ihres gesellschaftlich gefährlichen Charakters stellt sich die Frage, ob man sich nicht selber ausgetrickst hat.

Weshalb die Kritik nicht greift

Wenn diese differenzierte Kritik am Neoliberalismus also existiert, einige der Publikationen sogar Bestseller geworden sind, warum hat sie sich bislang nicht durchgesetzt, als erster Schritt zu einer Abwendung von der Alternativlosigkeit? Statt des Trumpismus? Die Logik des Sachzwangs ist sicherlich selbst schon ein wichtiger Grund für das Abperlen jeglicher Kritik: Wenn es nun einmal nicht anders geht, wird Bemängelung müßig. Wenn Regierung an sich nur ein technisches Ausführen klarer und unvermeidbarer Entscheidungen ist, was bringt es dann, diese zu hinterfragen und, mehr noch, praktisch gegen sie vorzugehen?

Aber chauvinistische Gegenbewegungen sehen sich mit demselben Problem konfrontiert. Auch sie begegnen ja der vermeintlichen Alternativlosigkeit der Politik der Märkte. Trump und andere Populisten haben es dennoch vermocht, erfolgreich Plattitüden und einfache Lösungen vorzuschlagen, als Alternativen zur Alternativlosigkeit. Jene Bestseller erreichen hingegen, auch wenn sie sich in ihrem Genre gut verkaufen, nur ein Nischenpublikum. Nämlich eines, das von der Opposition zum Dogma der Märkte ohnehin überzeugt ist. Die andere Hälfte der Bevölkerung liest andere Bestseller. Für sie dürften die eben genannten Bücher als Lektüre einer entkoppelten Elite wahrgenommen werden – genau darin liegt das Problem der Polarisierung.

Allerdings kann die erstaunliche Widerstands- und Wirkungskraft des Neoliberalismus (zumindest bislang) auch dadurch erklärt werden, dass er Widersprüche geradezu toleriert und absorbiert. Gegenpositionen und Kritik am liberalen Gesellschaftsentwurf werden zu authentischen Einzelstandpunkten, die als Kritik weiterbestehen können, aber marktförmig gemacht ihre Wirksamkeit verlieren und im Mainstream aufgehen: Punk wird zur Massenware, Protestgesang zur Aufzugsmusik, Guerillataktiken zum Teil des Shoppingerlebnisses. Die Schlagworte von Resilienz, von Nachhaltigkeit und Partizipation werden aufgenommen und marktfreundlich umgedeutet, der politische Status quo wird hinterfragt, bleibt aber intakt. Ähnlich ging es einem Großteil progressiver Kritik.

Ein mindestens ebenso wichtiger Grund für das Ausbleiben wirksamer Kritik scheint zudem auch zu sein, dass, zu