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Table of Contents

Innentitel

Der König

Die Autoren

Prolog

Das himmlische Finale zum irdischen Trauerakte

Sie haben ihn in' See neigsteßn

Stimmen von heute

Sire, einzig wahrer König dieses Säkulums

Vom Fin de siècle zum Science-Fiction

Ein Märchenprinz in grünem Sammetröckchen

Stimmen von heute

Das Bulyowsky-Luder soll sich zum Teufel scheren

Langjang, Lederstrumpf und Lohengrin

Ich kann nicht leben in dem Hauch der Grüfte

Vom Zauber des Hindu-Kuh

Man muss sich solche Paradiese schaffen

Stimmen von heute

Eine letzte Erfüllung?

Anhang

Außerdem empfehlen wir …

Impressum

 

 

Klaus Reichold
& Thomas Endl

 

Die phantastische Welt

des Märchenkönigs

Ludwig II.

Biographie

 

 

Der König

 

Er träumt von absolutistischer Allmacht und erkennt seine eigene Ohnmacht. Er sieht sich als Fürst des Friedens und führt zwei blutige Kriege. Er verdammt die Moderne und bedient sich der neuesten Technik. Er vergöttert tapfere Ritter und fürchtet den Gang zum Zahnarzt.

Ludwig II. ist Schöpfer königlicher Traumwelten – und zugleich ihr einziger Bewohner. Am Ende erklärt man ihn für verrückt. Dabei wird Ludwig II. schon zu Lebzeiten wie ein Popstar verehrt. Mit seinem Tod wird er zum Mythos.
Warum eigentlich?

 

Abb. 1: Der König als Schiffskapitän –

nie realisierte Punkbarke Ludwigs II., vermutlich für »Parthien« auf dem Chiemsee gedacht

(3D-Animation von Gerhard Hirzinger/Time in the Box)

Die Autoren

 

 

Klaus Reichold, gebürtiger Münchner, ist Kulturhistoriker und Programmleiter der Akademie für Kulturgeschichte bavaricum@histonauten. Er hat Dokumentationen für das Bayerische Fernsehen gedreht, Hörfunk-Features geschrieben und bei Verlagen wie Hoffmann und Campe, Prestel und Pustet publiziert. Seine Publikation Keinen Kuß mehr! Reinheit! Königtum! gilt als Standardwerk. In Vorträgen und Exkursionen beschäftigt er sich immer wieder mit der Geschichte der Wittelsbacher und insbesondere mit König Ludwig II. Mehr zu Klaus Reichold ...

 

Thomas Endl drehte gemeinsam mit Klaus Reichold für das Bayerische Fernsehen Dokumentationen, unter anderem ein Porträt über Ludwig I., den Großvater Ludwigs II. Er schrieb viele Kinderbücher, darunter die Neuschwanstein-Geschichte Niklas Märchenkönig. Und seine Mutter gehörte als Kind zu denjenigen, die bei Festveranstaltungen auf Herrenchiemsee die Kerzen im Spiegelsaal entzünden durften. Mehr zu Thomas Endl ...

 

 

 

 

Für die Kerzenanzünderin von Herrenchiemsee

 

Prolog

 

Wie lässt sich erklären, dass der höchst eigensinnige Herrscher eines international ziemlich unbedeutenden Königreiches zu einer weltberühmten Ikone wird? Anders gefragt: Warum geht von Ludwig II. noch im einundzwanzigsten Jahrhundert eine Faszination aus, die mit der von heutigen Superstars vergleichbar ist?

Johannes Erichsen, der frühere Präsident der Bayerischen Schlösserverwaltung, hat vermutlich recht. Der Märchenkönig entzieht sich jeder Einordnung. Er passt in keine Schublade. Er träumt von absolutistischer Allmacht und erkennt seine Ohnmacht. Er sieht sich als Fürst des Friedens und führt zwei blutige Kriege. Er verdammt die Moderne und bedient sich der neuesten Technik. Er fürchtet den Gang zum Zahnarzt und vergöttert tapfere Ritter. Er liebt bärtige Männer und inszeniert sich als jungfräulicher König. Er ist ein Kind der katholischen Kirche und verweigert dem Papst den Gehorsam.

Ludwig II. ist unzeitgemäß und erweist sich gerade dadurch als Musterkind seiner Epoche. Er schwelgt im Exotismus, im Historismus, im Orientalismus. Er ist König und Künstler – eine »Junggesellenmaschine« nach dem Vorbild des Prinzen Eugen, nach dem Vorbild Friedrichs II. von Preußen. Ludwig II. ist der Regisseur seines eigenen Lebens, der Bühnenbildner seiner eigenen Traumwelten, sein eigener und einziger Zuschauer. Ein Theaterkönig!

Ludwig II. ist ein schwarzes Loch. Er saugt alles auf, was ihm in die Quere kommt – Architekturgeschichtliches, Esoterisches, Kunstgeschichtliches, Mythisches, Theologisches. Er beschäftigt sich mit der Möglichkeit des lenkbaren Fluges, mit Telefonen, mit dem neuartigen »Velociped«. Er taucht ein in die Welt der byzantinischen Herrscher, der chinesischen Kaiser, der französischen Bourbonen. Er vertieft sich in Erzählungen aus dem antiken Persien, in altindische Epen, in die Nibelungensage. Er kopiert den Stil frühchristlicher Basiliken, mittelalterlicher Kathedralen, barocker Puttenseligkeit.

Wer ist Ludwig II.?

Dieses Buch ist ein Kolportagebericht, ein Klatschreport, eine Art »Yellow Press« des neunzehnten Jahrhunderts. Augenzeugenberichte sind die Basis dieser Darstellung.

Gottfried von Böhm – wie der König 1845 geboren – macht Karriere am bayerischen Hof und leitet zur Zeit Ludwigs II. unter anderem das »französische Bureau« im Ministerium des Äußeren und des Königlichen Hauses. 1879 ist Böhm als Kabinettssekretär im Gespräch – eine Stellung, die ihn quasi ins Vorzimmer des Märchenkönigs gebracht hätte. Die Entscheidung fällt zugunsten eines anderen Kandidaten. Dennoch weiß Böhm als Mitglied des Regierungsapparates über Vorgänge Bescheid, die der Öffentlichkeit verborgen bleiben. Außerdem kennt er die meisten Akteure im Umfeld des Königs persönlich – nicht nur die Hofbeamten und Künstler, zu denen er sich selber zählt: Neben seinem eigentlichen Beruf ist Böhm schriftstellerisch tätig. Aus seiner Feder stammen mehrere Theaterstücke, die Ludwig II. für seine Separatvorstellungen vorgeschlagen werden.

Von 1898 bis 1907 steht Böhm dem Geheimen Hausarchiv vor, das heute nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Wittelsbacher benutzt werden darf und auch den Autoren dieses Buches offenstand. Aufgrund seiner verschiedenen Ämter und Kontakte dürfte Böhm zu den intimsten Kennern der Lebensgeschichte Ludwigs II. zählen.

Das Gleiche gilt für Luise von Kobell. Als Gattin des königlichen Kabinettssekretärs August von Eisenhart, der zu seiner Amtszeit der wichtigste Ratgeber Ludwigs II. ist, wohnt sie über sechs Jahre lang Tür an Tür mit dem König in der Münchner Residenz. Kobell besorgt die Lektüre Seiner Majestät und weiß es zu schätzen, »in einem Schloße zu leben, wie die Residenz zu München ist, die große historische Erinnerungen birgt, und Kunstschätze aller Art enthält. Jeder Pfeiler, jedes Gemälde, jede Pforte ruft die Vergangenheit wach und offenbart Ereignisse und Begebenheiten, als läse man in einer aufgeschlagenen Chronik. Ich konnte, so lange wir in der Residenz wohnten, nach Herzenslust da und dort die Ahnenbilder betrachten«. Hinsichtlich des bayerischen Königshauses gilt Kobell als die bestinformierte Klatschtante ihrer Zeit. Außerdem arbeitet sie als Theaterautorin: Ihre Bearbeitung des französischen Dramas Salvoisy – oder: Der Liebhaber der Königin wird 1872 bei einer Separatvorstellung aufgeführt.

Auch Philipp zu Eulenburg gehört zu den Kronzeugen dieses Buches. Er ist ab Sommer 1881 Legationssekretär bei der Königlich Preußischen Gesandtschaft in München – und damit die rechte Hand des preußischen Gesandten in Bayern. Weil sein Vorgesetzter, Georg von Werthern, jedes Jahr von Juni bis Oktober in der Sommerfrische weilt, wird er in diesen Monaten von Eulenburg vertreten. »Um meiner Familie die Sommerzeit in der Stadt zu ersparen«, mietet Eulenburg »in dem nahen Starnberg ein Quartier«, wo er vom Tod des Königs erfährt. Er eilt augenblicklich an den »Tatort« und schreibt seinen Bericht unmittelbar nach der aus nächster Nähe miterlebten Katastrophe nieder.

Theodor Hierneis, 1868 in München als Sohn eines Säcklermeisters und Handschuhmachers geboren, tritt mit vierzehn Jahren als »Hofkücheneleve« in den Hofstaat Ludwigs II. ein und begleitet den Märchenkönig bis zu dessen Tod im Jahr 1886. Er hat Anspruch auf ein Stück Fleisch pro Tag und »sein eigenes Kochplätzchen an den großen Herden«. Sein Tagesverdienst liegt »in Loco« – das heißt: an einem »festen Standort wie München, Berg oder Hohenschwangau« bei einer Mark vierzig (etwa 13,80 Euro). Als Küchenjunge teilt sich Hierneis mit einem Kollegen ein Zimmer unter dem Wintergarten und lernt nicht nur, welche Reissorten es gibt, sondern auch, worin der Unterschied zwischen Korinthen, Sultaninen und Weinbeeren besteht. Er hat – weil der König die Nacht zum Tage macht – unmögliche Arbeitszeiten und »selten Gelegenheit den versäumten Schlaf nachzuholen. Die langen wachen Nächte wurden oft, und besonders im Winter, zur Ewigkeit. So erinnere ich mich daß ich mich oft in Neuschwanstein früh zwischen drei und vier Uhr auf die Terrasse vor der Küche ins Freie setzte, nur um den Schlaf überwinden zu können. Öfters sah ich da, wie sich die Füchse den steilen Hang der Pöllatschlucht heraufschlichen. So gingen die Nächte vorüber, sommers wie winters, und erst wenn das Souper serviert war und keine Abreise bevorstand, konnte ich mich einige Stunden niederlegen.« Zwei Jahre lang, von 1884 bis 1886, fungiert Hierneis als Hofkoch Ludwigs II. 1901 eröffnet er ein Delikatessengeschäft in der Münchner Neuhauserstraße, fünf Jahre später eine noch heute existierende Filiale in der Starnberger Maximilianstraße. 1953, in seinem Todesjahr, bringt er seine Erinnerungen an den Märchenkönig zu Papier.

Gegenüber dem amerikanischen, zehn Jahre jüngeren Schriftsteller Lew Vanderpoole soll Ludwig II. im Jahr 1882 bei einem Gespräch über Edgar Allen Poe sein Herz geöffnet haben: »Ich glaube, dass eine bestimmte Ähnlichkeit zwischen Poes Natur und der meinen besteht. Poe hatte sowohl Genie wie Persönlichkeit. Mir fehlt beides. Er hatte soviel Kraft und Zähigkeit, daß er, bei aller Empfindsamkeit, imstande war, der Welt Trotz zu bieten. Auch das ist mir versagt. Nicht, daß ich ein Feigling wäre. Gleichwohl: Beleidigungen verletzen mich so tief, daß sie mich entwaffnen, und sicherlich werden sie mich eines Tages vernichten. Ein scharfer oder forschender Blick – und sei es der eines gewöhnlichen Bauern – kann mich stundenlang bedrücken. Ein abfälliger Zeitungsartikel macht mich unsäglich elend. Mein Inneres ist sensibel wie eine photographische Platte: Jeder leiseste Eindruck ist unverwischbar eingeprägt. Was ich lernen sollte, erschien mir albern. Ich konnte stundenlang dasitzen und meinen eigenen Gedanken nachträumen. Dafür wurde ich verspottet. Ich bin einfach anders gestimmt als die Mehrheit meiner Mitmenschen. Gesellschaft ist mir entsetzlich und ich halte mich ihr fern. Frauen machen mir den Hof, aber ich gehe ihnen aus dem Wege und so muß ich es leiden, daß ich verlacht, verachtet und verleumdet werde.«

Sagt Vanderpoole, der in anderem Zusammenhang der Lüge überführt wurde, bezüglich Ludwig II. die Wahrheit? Wir wissen es nicht. Das ist das Problem vieler Geschichten über den Märchenkönig. Was stimmt? Was stimmt nicht? Aber stellen wir uns nicht immer und überall die Frage: Was ist Wahrheit?

Das himmlische Finale zum irdischen Trauerakte

 

Der tote König

 

Abb. 5: Tausende zogen vorüber –

der Katafalk Ludwigs II. in der Hofkapelle der Münchner Residenz

 

Es war zwei Uhr nachts, wenn nicht später. In den endlosen Gängen der Münchner Residenz herrschte gespenstische Stille. Und nirgendwo zeigte sich ein Diener! Philipp zu Eulenburg, seit knapp fünf Jahren Legationssekretär der Preußischen Gesandtschaft in Bayern, eilte orientierungslos durch die spärlich beleuchteten Korridore. Er kam von einer Unterredung mit dem preußischen Kronprinzen und dem Großherzog von Baden, die in der Residenz logierten und ihn zu sich gebeten hatten. Er sollte ihnen erzählen, was in der Nacht zum vergangenen Montag wirklich passiert war. Dieser Pflicht hatte er, aus seiner Sicht, Genüge getan. Jetzt wollte er endlich nach Hause. Aber wo ging es hinunter ins Parterre, zur Pforte, die auf die Residenzgasse hinausführte? Am Ende eines dunklen Ganges zeichnete sich eine Tür ab. Eulenburg öffnete sie – und »prallte entsetzt zurück«, wie er in seinen Erinnerungen erzählt. Denn er stand auf einer Empore der Hofkapelle und blickte direkt in den offenen Sarg Ludwigs II.: »So hoch war der Katafalk, auf dem die Leiche des Königs in der Tracht der Georgsritter [richtig müsste es heißen »Hubertusritter«] ruhte, daß sie den Rand dieser Galerie erreichte. Schauderhaft verzerrt war das rot und weiß geschminkte Totenantlitz, auf dem der Widerschein der gelben Kerzen sich spiegelte!«, so Eulenburg.

Seit Jahren hatte sich Ludwig II. kaum in seiner königlichen Haupt- und Residenzstadt München aufgehalten – manchmal nicht viel länger als jene einundzwanzig Tage, die die Verfassung dem Monarchen zwingend vorschrieb. Jetzt aber war er für immer zurückgekehrt. Und das Volk, das ihn – den Einsamen, Menschenscheuen, Weltflüchtigen – nur noch vom Hörensagen kannte, kam in hellen Scharen, um ihn ein letztes Mal zu sehen. »In der Residenzstraße war zeitweilig an ein Durchkommen gar nicht zu denken«, heißt es im Jahrbuch der Stadt München unter dem 15. Juni 1886, »zu Hunderten und Tausenden standen die Leute vor dem Portal und warteten, bis der Torflügel sich wieder einmal öffnen und einer neuen Gruppe Einlaß gewähren sollte«.

Auch die damals einundzwanzigjährige Komponistentochter Helene Raff, eine angehende Schriftstellerin und Porträtmalerin, hatte sich in die Schlange eingereiht: »Sämtliche Tore der Residenz waren geschlossen, nur das Löwentor und Apothekertor wurden alle 15 Minuten abwechselnd geöffnet, um den draußen Harrenden den Anblick des Toten zu gönnen. Sooft ein Tor aufging, drängte ein Menschenknäuel vorwärts – Stöhnen und Angstschreie der Eingepressten wurden laut. Und es regnete – regnete – regnete. Zweimal gelang es mir, den toten König zu sehen. Einmal mit meiner Mutter unter den Scharen, welche vor dem Katafalk vorüberzogen. Dann von der Galerie der Kapelle aus, wo Bekannte mich eingeschmuggelt hatten. Steil brennende Wachskerzen warfen einen rötlichen Flackerschein auf den Katafalk, an dem Georgiritter und Hartschiere Wache hielten. Geistliche knieten auf Betstühlen, knieten regungslos. Ebenso steinern standen die Wächter um den hochgebetteten, unheimlich starren Körper. Der König war, so schön die Züge auch im Tode noch erschienen, der furchtbarste Tote, den ich je bis dahin gesehen, weil der erste, dessen Antlitz von Frieden nichts wusste. Eine Bitterkeit, die es fast ins Böse verzerrte, sprach daraus. Inmitten des nur von Flüstern unterbrochenen Schweigens, der dumpfen, nach Wachs und Blumen riechenden Luft ward mir eng und beklommen ums Herz. Ich konnte erst wieder atmen, als ich draußen war.«

 

Abb. 6: Der Münchner »Centralbahnhof« – damals der größte der Welt

 

Am Tag der Beisetzung traf ein Sonderzug nach dem anderen am neueröffneten »Centralbahnhof« ein – dem damals größten der Welt. Und Zehntausende säumten die Straßen, als sich der Leichenzug am späten Vormittag bei Nieselregen in Bewegung setzte. Unter dumpfem Trommelwirbel und dem Geläut aller Glocken der Stadt führte des Königs letzter Weg von der Residenz über die Briennerstraße, den Karolinenplatz, die Arcis- und die Sophienstraße, den Stachus und die Neuhauserstraße nach St. Michael, zur Hof- und Gruftkirche der bayerischen Herrscherdynastie.

Die Geschäfte waren geschlossen, an den Fassaden der Häuser flatterten schwarze Fahnen. »Behufs Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit während der Allerhöchsten Leichenfeier« hatte man laut einem Bericht des Bayerischen Vaterlands vom 22. Juni 1886 »in den Straßen, welche der Kondukt berührt«, sogar das Rauchen verboten. Außerdem war »das Besteigen von Bauten, Baugerüsten, Leitern, Einfriedungen und Dachungen« strengstens untersagt, woran sich allerdings niemand hielt.

 

Abb. 7: Trotz Verbots – Blick vom Dach auf den Leichenzug

 

Angeführt wurde der Leichenzug von Soldaten der bayerischen Armee. Ihnen folgten die Münchner Schulkinder mit ihren Lehrern, die Ordensleute, die Diener und Hofbeamten, der Stadtklerus, die Angehörigen des königlichen Hochstifts St. Kajetan, die Oberhirten von Bamberg, Eichstätt, Passau, Regensburg und Würzburg, der Münchner Erzbischof und das Domkapitel, der königliche Kammerdiener, die Leibärzte. Erst jetzt kam der von acht Pferden gezogene, mit Kränzen geschmückte Hoftrauerwagen in den Blick, flankiert von Georgirittern, königlichen Edelknaben, Hartschieren, Kammerherren, General- und Flügeladjutanten. Dicht hinter dem Sarg schritten Kronprinz Rudolf von Österreich und Kronprinz Friedrich von Preußen – in ihrer Mitte Prinz Luitpold, der Onkel des toten Königs. Er hatte nicht nur die Nachfolge seines Neffen übernommen, weswegen er als »Prinzregent« in die Geschichte eingehen sollte. Der Fünfundsechzigjährige war nun auch das neue Familienoberhaupt der Wittelsbacher.

Helene Raff blickte von den offenen Wohnungsfenstern der Familie Cornelius in der Arcisstraße auf das düstere Spektakel: »Von der Persönlichkeit Ludwigs II. ganz abgesehen, hatte das Zeremoniell Fesselndes genug. Das gesattelte Trauerpferd, die Pagen in [den Landesfarben] Blau und Silber, welche Kerzen trugen und die Zipfel des Bahrtuches hielten, und die unmittelbar vor dem Sarg schreitenden ›Gugelmänner‹ im schwarzen, kuttenartigen Überwurf, der nur die Arme frei ließ und auf der Brustseite die Wappen des Königs nebst gekreuzten Totenbeinen zeigte« – das alles wirkte »spukhaft erschütternd«.

 

Abb. 8: Begleitet von schwarz vermummten Guglmännern –

der Leichenzug am Münchner Karolinenplatz

 

Das Grauen sollte sich allerdings noch steigern. Denn als der Sarg um halb drei Uhr nachmittags am Portal von St. Michael »von Stiftsdekan Ritter von Türk und der Hofgeistlichkeit empfangen, nach Absingung der Vigil in einen zweiten gelegt, vom Minister des königlichen Hauses versiegelt und der Gruft übergeben wurde, fuhr angesichts der hocherschreckten Menge eine mächtige Feuergarbe, ein Blitz, herab auf die St. Michaelskirche, dem ein entsetzlicher Donnerschlag folgte. Das war das himmlische Finale zu dem irdischen Trauerakte«, so der Berichterstatter des Bayerischen Vaterlands.

Das Königreich Bayern hatte in den Tagen zuvor die wohl aufwühlendsten Stunden seiner jüngeren Geschichte erlebt – einen Krimi, der als »Königskatastrophe« in die Annalen einging. Das Geschehen gibt bis heute Rätsel auf – zumal es mit einem unerhörten Vorgang begann: mit der Entmündigung und Absetzung eines regierenden Monarchen durch seine eigenen Minister und Familienangehörigen. Am frühen Morgen des 10. Juni 1886 stand die »Regentschaftsproklamation« an allen Straßenecken angeschlagen: »Unser Königliches Haus und Bayerns treubewährtes Volk ist nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse von dem erschütternden Ereignis betroffen worden, daß Unser vielgeliebter Neffe, der allerdurchlauchtigste großmächtigste König und Herr, seine Majestät König Ludwig II. an einem schweren Leiden erkrankt sind, welches Allerhöchstdieselben an der Ausübung der Regierung verhindert. Da Seine Majestät für diesen Fall weder Vorsehung getroffen haben noch dermalen treffen können, so legen Uns die Bestimmungen der Verfassungsurkunde als nächstem berufenen Agnaten die traurige Pflicht auf, die Reichsverwesung zu übernehmen. München, den 10. Juni 1886, Luitpold, Prinz von Bayern.«

Ludwig II. sollte sich zu diesem Zeitpunkt eigentlich längst in Gewahrsam befinden. Doch ein erster Versuch, ihn festzunehmen, war in der Nacht zuvor auf geradezu tragikomische Weise gescheitert: Der König, von seinem Leibkutscher gewarnt, hatte sich in Schloss Neuschwanstein verbarrikadiert, zur Verstärkung seiner Wachen Gendarmen aus dem nahen Füssen angefordert und die Feuerwehren (!) der umliegenden Dörfer alarmiert. Entsprechend unfreundlich wurde die »Fangkommission«, angeführt vom Minister des Königlichen Hauses und des Äußeren, empfangen. Unten im Dorf standen nach dem Augenzeugenbericht eines Kommissionsmitglieds »zwanzig sehr verdächtige Leute, denen man ansah, daß sie gute Lust hatten, uns in Stücke zu hauen. Oben im Schloßhof wartete eine ganze Rotte ähnlicher Gestalten, Feuerwehrleute, Bauern, Holzknechte, durch deren Reihen wir Spießruten laufen mussten.« Einer von ihnen drohte, dem Minister »alle vier Augen auszuschlagen«. Und als sich die Kommission gewaltsam Zutritt zum Schloss verschaffen wollten, riß Wachtmeister Heinz sein Gewehr hoch und rief »Keinen Schritt weiter, oder ich gebe Feuer!«

 

Abb. 9: Gedachte, den König mit ihrem Regenschirm zu schützen –

Baronin Esperanza von Truchseß und Wetzhausen

 

Zu allem Unglück tauchte auch noch Baronin Esperanza (genannt »Spera«) von Truchseß und Wetzhausen vor dem Schlossportal auf, eine ebenso streitbare wie exzentrische Verehrerin Ludwigs II., die zur Sommerfrische in Hohenschwangau weilte, nun aber ihren König mit dem Regenschirm zu verteidigen gedachte und den Kommissionsmitgliedern ausgesuchte Verwünschungen entgegenschleuderte. Letztendlich kehrten die Herren unverrichteter Dinge und bis auf die Knochen blamiert nach München zurück. Dass sie die Verhaftung des Königs »schulbubenhaft« vermasselt hätten, war noch der geringste Vorwurf.

Trotzdem schienen die Tage Ludwigs II. als Herrscher gezählt. Keine achtundvierzig Stunden später, am Freitag, dem 11. Juni 1886, machte sich eine zweite »Fangkommission« auf den Weg. Sie bestand nur noch aus Bernhard von Gudden, dem Direktor der Kreisirrenanstalt von Oberbayern, dessen Assistenzarzt Franz Carl Müller, einem Gendarmeriehauptmann und fünf Pflegern. Der König, so der Plan, sollte hinterrücks überwältigt und nach Schloss Berg am Starnberger See gebracht werden, wo man sofort mit einer psychiatrischen Behandlung beginnen wollte.

Diesmal waren Dienerschaft und Wachpersonal eingeweiht. Das Unternehmen durfte kein zweites Mal schiefgehen. Neuschwanstein, damals noch Baustelle und größtenteils hinter Gerüsten versteckt, lag bleich und still im fahlen Licht des Mondes, als die Kommission gegen Mitternacht am Burgtor vorfuhr und Bernhard von Gudden letzte Order ausgab. Wie Diebe in der Nacht huschten die Häscher nach dem Augenzeugenbericht von Franz Carl Müller über schwankende Bretter und durch unverputzte Korridore in Richtung Treppenturm. Auf dem dritten Absatz der Wendeltreppe angekommen, von dem ein kurzer Korridor zum bereits komplett eingerichteten Appartement des Königs führte, teilten sie sich auf. Drei Pfleger stiegen weiter nach oben, um den König zu hindern, auf den Turm zu entkommen. Die beiden anderen Pfleger, die Gendarmen und die beiden Ärzte gingen wieder einige Stufen hinunter, um Ludwig II. auch diesen Weg abzuschneiden. Dort lauerten sie. Es war abgemacht, dass Kammerdiener Lorenz Mayr den König unter einem Vorwand aus seinem Appartement locken sollte.

»Auf einmal hörten wir feste, schwerfällige Tritte«, berichtet Müller, »ein Mann von imposanter Größe stand unter der Korridortüre. Da stürzten die Pfleger von oben herab, wir gingen rasch hinauf. Der König wurde an den Armen gefasst, stieß bloß ein schmerzlich überraschtes ›Ah!‹ aus und fragte dann immer wieder ›Ja, was soll denn das? Ja was wollen Sie denn? Lassen Sie mich doch los!‹ Dann wurde der König in sein Schlafzimmer geführt, und nun sprach Gudden: ›Majestät, es ist die traurigste Aufgabe meines Lebens, die ich übernommen habe; Majestät sind von vier Irrenärzten begutachtet worden, und nach deren Ausspruch hat Prinz Luitpold die Regentschaft übernommen. Ich habe den Befehl, Majestät nach Schloß Berg zu begleiten, und zwar noch in dieser Nacht. Wenn Majestät befehlen, wird der Wagen um vier Uhr vorfahren.‹«

Dem leichenblassen König blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Als kurz vor vier Uhr früh drei Kutschen in den Hof rollten, verabschiedete sich Ludwig II. – in einen dunklen Mantel gehüllt, das schwarze Hütchen mit der Brillantagraffe auf dem Kopf – von Ferdinand Poppeler, dem zuständigen Gendarmeriewachtmeister: »Haben Sie dank für Ihre treuen Dienste und leben Sie wohl, mich sehen Sie nicht mehr!« Dann stieg er in seinen Wagen, bei dem man den Drücker entfernt hatte, damit er von innen nicht geöffnet werden konnte. »Auf dem Bock saß Oberpfleger Barth, neben dem Wagen ritt ein Reitknecht, der den Auftrag hatte, ständig in den Wagen zu sehen. Sobald er etwas Verdächtiges bemerken würde, sollte er rufen.« Aber das wurde nicht notwendig. Um zwölf Uhr zwölf mittags – man schrieb Samstag, den 12. Juni 1886 – traf der Konvoi in Schloss Berg ein, wo man inzwischen ebenfalls die Klinken abgeschraubt und Gucklöcher in die Türen gebohrt hatte. Nach den Pfingstfeiertagen sollten auch die Fenster vergittert werden. Doch dazu kam es nicht mehr. Denn keine sechsunddreißig Stunden später war der König tot. Am Pfingstsonntag, dem 13. Juni 1886, hatte es den ganzen Tag über wie aus Kübeln geschüttet. Schneidender Westwind kräuselte die Wellen des Starnberger Sees, das Wasser war kalt. Zwölf Grad soll es gehabt haben, als Ludwig II. gegen dreiviertel sieben Uhr abends in Begleitung Guddens zu einem Spaziergang durch den Schlosspark aufbrach. Gudden – einer der prominentesten Psychiater seiner Zeit, ein gefragter Gutachter aufsehenerregender Schauprozesse und selbst im Umgang mit schwerst gestörten Patienten hoch erfahren – hatte merkwürdigerweise angeordnet, dass kein Pfleger mitkommen dürfe.

Allerdings gab es auch keine größeren Sicherheitsbedenken. Der König war den ganzen Tag über äußerst zuvorkommend gewesen. Und der Park, der sich vom Schloss entlang des Seeufers rund 800 Meter in Richtung Süden erstreckt, hatte an seiner Landseite ja Mauern und Zäune. Trotzdem stieg die Nervosität, als der König und Gudden nach eineinhalb Stunden noch immer nicht zurückgekehrt waren, obwohl es in der Zwischenzeit stärker zu regnen begonnen hatte.

Ein erster Suchtrupp wurde losgeschickt. Als die Männer ohne Ergebnis wiederkamen, griff helles Entsetzen um sich. Das gesamte Schloss-, Gendarmerie- und Pflegepersonal wurde alarmiert. Man gab Fackeln aus. Mehrere Gruppen durchkämmten das dicht bewaldete, ansteigende Gelände, andere brachen durch das tropfnasse Buschwerk am Ufersaum und liefen geradewegs ins hüfttiefe Wasser hinein, um den Seeboden mit langen Stangen abzutasten – jederzeit gewahr, einen grausigen Fund zu machen.

 

Abb. 10: Das Ende eines exzellenten Schwimmers –

die Leiche Ludwigs II. im hüfthohen Wasser

 

»Um 10 Uhr 30 entstand plötzlich eine große Schreierei«, berichtet Franz Carl Müller, der als Assistenzarzt Guddens die Suche koordinierte: »Ein Schloßbediensteter brachte den Hut des Königs mit der Brillantagraffe, den er am Ufer des Sees gefunden hatte. Der Hut war vollständig durchnässt. Nach wenigen Minuten wurde mir gemeldet, man hätte den Hut Guddens und die beiden Röcke [den Mantel und das Jackett] des Königs gleichfalls am Ufer gefunden, ebenfalls durchnässt, und einige Schritte auf dem Trockenen lag Guddens Regenschirm. Nun lief ich mit dem Schloßverwalter hinunter an den See, wir weckten den Fischer Lidl und bestiegen ein Boot, fuhren ungefähr um 11 Uhr ab gegen Leoni zu. Wir waren noch nicht lange auf dem Wasser, da stieß Huber plötzlich einen Schrei aus und sprang ins Wasser, das ihm bis an die Brust ging. Er umklammerte einen Körper, der frei auf dem See trieb, es war der König in Hemdsärmeln. Ein paar Schritte hinterdrein schwamm ein zweiter Körper – Gudden – ich zog ihn ans Boot, und dann ruderte Lidl gegen das Ufer zu. Am Ufer sprangen uns einige Pfleger bei, und mit diesen hoben wir die beiden Körper ins Boot, wir standen bis zur Hüfte im Wasser. Beide waren, wie ich damals sofort erklärte, ohne Puls und ohne Atmung. Die Totenstarre war schon eingetreten. Die Uhr des Königs, die aus der Weste heraushing, war um 6 Uhr 54 stehengeblieben, Guddens Uhr um 8 Uhr. Wir machten nun, nachdem wir rasch die Kleider geöffnet hatten, an den beiden die üblichen Wiederbelebungsversuche. Natürlich waren alle Versuche ohne Ergebnis. Als es von Starnberg 12 Uhr Mitternacht schlug, erklärte ich, weitere Bemühungen seien nutzlos und konstatierte dann offiziell den Tod des Königs und seines Arztes.«

Sie haben ihn in' See neigsteßn

 

Die Gerüchteküche

 

Abb. 11: Klarheit? – Es ist zu befürchten, dass die näheren Umstände

auch in Zukunft ein Geheimnis bleiben werden

 

Bei der Bevölkerung, die am 14. Juni 1886 frühmorgens mit der Nachricht von der nächtlichen Tragödie aus dem Schlaf gerissen wurde, saß der Schock tief. Eigentlich war ja Pfingstmontag – ein hoher kirchlicher Festtag. Angesichts der Ereignisse stand jedoch niemandem der Sinn nach feierlicher Beschaulichkeit. »Die Straßen sind so belebt, wie es wohl an einem solchen trüben Regentage selten der Fall sein dürfte«, heißt es in einer Sonderausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten. »Insbesondere drängen sich an dem Marienplatze große Scharen. Die Kirchen sind bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Extrablätter der hiesigen Presse gehen von Haus zu Haus, die Kolporteure auf den Straßen sind dicht umdrängt.« Ähnliches berichtet Philipp zu Eulenburg: »Ich fand München am Nachmittag dieses denkwürdigen Tages in größter Aufregung. Die unheimlichsten und unglaublichsten Gerüchte durchschwirrten die Stadt. Graf Holnstein [der zum Kurator und Vormund Ludwigs II. bestellte Oberststallmeister] sollte sich das Leben genommen haben oder von einer wütenden Volksmenge gelyncht worden sein, die Königin-Mutter hätte der Schlag gerührt –, so ging es weiter in bunter Folge von Stunde zu Stunde.«

 

Abb. 12: Stündlich neue Extrablätter – wie ist der König wirklich umgekommen?

 

Zur Todesursache Ludwigs II. verlautete bereits am Morgen des 14. Juni 1886 von offizieller Seite, »der König habe sich in den Starnberger See gestürzt und sei mit Gudden ertrunken«. Für die Selbstmord-Theorie spricht, dass Ludwig II. schon in Neuschwanstein an Suizid dachte. Kammerdiener Lorenz Mayr gab zu Protokoll, der König habe unmittelbar vor seiner Festnahme mit dem Gedanken gespielt, vom südlichen Treppenturm in die Pöllatschlucht zu springen und – nachdem dieser Plan von Mayr erfolgreich durchkreuzt worden war – Zyankali verlangt. Schon zuvor sei der Gang ins Wasser ein Gesprächsthema gewesen. So habe Ludwig II. erklärt, »daß das Ertränken« im Gegensatz zu einem Sprung in die Tiefe »ein schöner Tod sei und nicht entstelle«.

Trotzdem wollten weite Kreise der Bevölkerung vom angeblichen Selbstmord ihres Königs im seichten Uferbereich des Starnberger Sees nichts wissen – zumal Ludwig II. als ausgezeichneter Schwimmer galt. Schien es nicht eher so, dass er bei einem missglückten Fluchtversuch ums Leben gekommen war? Auf den Straßen jedenfalls erzählte man sich nach dem Zeugnis von Helene Raff, Ludwig II. habe nicht sterben wollen, sondern »fliehen und um sein Recht kämpfen! Die Tiroler, die von seinen häufigen Fahrten übern Fernpaß her für ihn schwärmten, hätten zu den Waffen gegriffen für ihn, und jeder Bayer hätte das erst recht getan.«

Dass dem König von mehreren Seiten zur Flucht geraten wurde, steht außer Frage. So berichtet Alfred Eckbrecht von Dürckheim-Montmartin, der letzte Flügeladjutant, er sei noch in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1886 von Ludwig II. nach Neuschwanstein beordert und gefragt worden, was angesichts der drohenden Absetzung zu tun sei. »Ich machte ihm den Vorschlag, sofort anspannen zu lassen und mit mir nach München zu fahren, um sich dem Volke zu zeigen; alles würde ihm zujubeln. Der König aber erklärte, daß er müde sei, daß die Luft in der Stadt ihm nicht bekäme – kurz, er wich meinen Vorschlägen aus. Ich sagte dem König, wenn er nicht nach München fahren könne, so möchte er anspannen lassen und sich mit mir über die Grenze nach Tirol begeben. In einer Stunde sei er frei. Der König antwortete auch auf diesen Vorschlag ausweichend: ›Ich kann jetzt nicht fahren; was soll ich in Tirol machen?‹« Gegenüber der Öffentlichkeit erklärte Dürckheim: »Der König hatte meine Hilfe und meinen Rat verlangt, ich schlug ihm das Einfachste und durchaus Mögliche vor – aber er war nicht imstande, darauf einzugehen. Es waren fürchterliche Momente. Endlich reiste ich ab, ich sah, daß nichts zu machen war.«

In Wirklichkeit soll Dürckheim die Flucht des Königs minuziös vorbereitet und Kaiserin Elisabeth von Österreich telegraphisch um Hilfe gebeten haben. Auch Eulenburg berichtet, »daß schon in der Nacht, als der König von [Neu]Schwanstein nach Berg transportiert wurde, Komplotte zu seiner Befreiung geschmiedet worden sind«, und zwar in erster Linie von »der Kaiserin von Österreich«. Tatsächlich weilte die berühmte Sisi in den Tagen der »Königskatastrophe« zur Sommerfrische in Feldafing am Starnberger See. Sie kannte den acht Jahre jüngeren Ludwig II. noch aus gemeinsamen Kinder- und Jugendjahren. Als Cousin und Großcousine oder Neffe und Tante zweiten Grades verband die zwei »Königskinder« nicht nur ihre Abstammung aus dem bayerischen Herrscherhaus der Wittelsbacher, sondern auch eine erstaunliche Wesensähnlichkeit: Beiden war es eine Last, Audienzen zu erteilen, mit der offiziellen Welt zu verkehren, sich der Hofetikette zu unterwerfen. In der weiten Welt der Literatur fühlten sie sich eher zu Hause als in ihrer ungeliebten, jeweils als einengend empfundenen Lebenswirklichkeit.

Hat Elisabeth ihrem Cousin in den dramatischen Junitagen des Jahres 1886 wirklich ihre Unterstützung angeboten? Eine persönliche Antwort der Kaiserin auf diese Frage ist nicht überliefert, wohl aber eine poetische Reflexion aus ihrer Feder:

 

»Ja, ich war ein Märchenkönig,

Sass auf hohem Felsenthrone,

Schlanke Lilie war mein Scepter,

Funkelnd' Sterne meine Krone …

 

Doch das feige Hofgesinde

Und die Blutsverwandten spannen

Tückisch, heimlich ihre Netze,

Und auf meinen Sturz sie sannen …«

 

Es gibt keine historischen Dokumente, die nahelegen, Sisi sei auf eine wie auch immer geartete Weise in die Sache verwickelt gewesen. Trotzdem werden die geheimnisvollen Wagenspuren, die man in der Todesnacht Ludwigs II. vor dem Tor des Schlossparks von Berg entdeckt hat, immer wieder mit ihr in Verbindung gebracht. Stammen sie von einer Kutsche, die Eugen von Beck-Peccoz, Schlossherr im nahen Eurasburg, auf Vermittlung Elisabeths für die Flucht des Königs bereitgestellt hatte? Falls ja, hätte Ludwig II. die Kutsche erreichen können, wenn es ihm gelungen wäre, das Tor zu überwinden oder um den Zaun, der bis ans Wasser reichte, herumzuschwimmen? Sollten ihm dabei die Besatzungen jener Ruderbote behilflich sein, die am 13. Juni 1886 schon seit dem Vormittag »nah am Ufer und ungeachtet der unausgesetzten Regengüsse« kreuzten und vom Gendarm Johann Lauterbach beobachtet wurden, wie sie noch »zwischen 7 ¾ bis 8 Uhr« abends »den Park entlang gegen Leoni« fuhren? Jedenfalls zog man den Leichnam Ludwigs II. später genau in diesem Bereich aus dem See. Und sprach nicht auch die Tatsache, dass der König Mantel, Jackett und Hut am Ufer zurückgelassen hatte, bevor er ins Wasser ging, gegen einen Selbstmord? Zumindest die Einheimischen waren nach dem Zeugnis von Max Weiß, dem Sohn des damaligen Schlossgärtners, davon überzeugt, dass Ludwig II. fliehen wollte – und dass sein Tod »wegen des kalten Wassers durch Herzschlag eingetreten« sei.

Über die wahre Todesursache des Königs kursieren allerdings auch andere Gerüchte. Sie knüpfen an unbestätigte Berichte an, wonach man sich am Nachmittag des 13. Juni 1886 im Wirtshaus von Leoni erzählte, Ludwig II. wolle noch am Abend fliehen – entweder, um sich nach Tirol abzusetzen oder um sich am nächsten Morgen in München der Bevölkerung zu zeigen, vermutlich in der Absicht, die Klarheit seines Geistes unter Beweis zu stellen und die Regierungsgewalt zurückzufordern. Gudden, so verlautete, habe von den Plänen Wind bekommen. Hat Gudden auch die Minister informiert und gemeinsam mit ihnen Vorsorge getroffen, eine für alle Beteiligten höchst blamable Flucht Ludwigs II. unter Anwendung von Gewalt zu vereiteln?

 

Abb. 13: Die letzten Augenblicke – welche Rolle spielte Dr. Gudden?

 

Der große bayerische Historiker Karl Bosl gab dieser Vermutung Nahrung, als er 1974 erklärte, »Tod und Entmündigung König Ludwigs II.« seien »von einer anonymen Ministeroligarchie beschlossen« worden. Tatsächlich war nach dem Bericht von Helene Raff schon am 14. Juni 1886 von Mord die Rede. Noch heute diskutieren weiß-blaue Boulevardblätter regelmäßig die Frage, ob Ludwig II. erschossen wurde.

Als Quelle wird in der Regel der königliche Leibfischer Jakob Lidl herangezogen. Er soll Augenzeuge des angeblichen Staatsverbrechens gewesen sein. Das ominöse schwarze Schulheft mit seinen Aufzeichnungen gilt zwar als verschollen. Dafür macht die mündliche Überlieferung seiner Version die Runde. Danach hatte Lidl den Auftrag, mit seinem Kahn nicht allzu weit vom Ufer entfernt auf den König zu warten. Lidl sollte ihn ins Boot holen und in die Mitte des Sees rudern. Dort, so hieß es, würde Ludwig II. von »bewaffneten Gebirglern« in Empfang genommen und zu einem von vier möglichen Landepunkten gebracht, um seine Flucht in einer der bereitgestellten Kutschen fortzusetzen. Dazu sei es aber nicht gekommen, da der König just in jenem Moment, in dem er den Kahn erreichte, von zwei Schüssen tödlich getroffen zusammensackte. Darauf sei Lidl in Todesangst zu seinem Haus am Seeufer zurückgerudert und habe sich schluchzend ins Bett verkrochen.