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Rike Thome

Ich will leben

Gefangen zwischen Himmel und Erde


Covergestaltung: Glaux Lektorat: Laura Misellie Diesen beiden Menschen einen ganz besonderen Dank!


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Grauenvolle Kindheit

„Ich hab' die Nase endgültig voll! Die Schule ist kacke und ich will da nicht mehr hin, Mama! Sie sind so gemein zu mir", tobte Melanie lautstark, kaum, dass sie zur Tür hereinkam.

Sie fand ihre Mutter in der Küche vor, die dabei war, das Essen zuzubereiten.

Während sie sich etwas zum Trinken aus dem Kühlschrank nahm, hinterfragte Melanie: „Hörst du mir überhaupt zu?"

Ihre Mutter wandte sich zu ihr um und meinte lächelnd: „Erst einmal guten Tag, mein Schatz! Und ja, ich hör' dir zu! Du bist ja nicht zu überhören!"

Dann schmunzelte sie auch noch und ließ sich neben ihrer Tochter auf dem Stuhl nieder.

Melanie fragte hoffnungsvoll: „Und? Darf ich?"

Jedoch kam die Antwort: „Nein! Damit lässt du deine Mitschüler siegen und das ist es doch, was sie wollen! Du schaffst das schon!"

Melanie starrte ihre Mutter an und schnaubte. Ihr stank es gewaltig, von der ganzen Klasse gemieden zu werden, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Sie durfte sich ja nicht einmal zur Wehr setzen! Mit Worten war sie bisher kein bisschen weitergekommen. Ihre Mitschüler wollten nichts mit ihr zu tun haben und das traf Melanie hart.

Wütend und frustriert zugleich, schnauzte sie nun ihre Mutter an: „Ach ja, und wie? Du und Papa, ihr seid doch Schuld, dass sie mir den Rücken kehren! Außer doof in der Schule zu sitzen und den Lehrern zuzuhören, dass ich ja gute Noten schreibe, darf ich doch nichts. Und warum? Weil ihr von der Schulleitung verlangt habt, mich vom Sportunterricht auszuschließen. Deswegen schließen mich meine Mitschüler jetzt auch von allem anderen aus."

Melanie wusste, dass sie nun ungerecht war. Ihre Eltern taten das alles doch nur zu ihrem Wohlergehen. Immerhin gab es drei Mädchen, die sich nicht vor ihr fürchteten. Wenn sie aber sah, wie viele Freunde andere in ihrem Alter hatten, war das eine magere Ausbeute. Trotzdem wollte sie in diesem Augenblick den aufgestauten Frust ablassen. Ihre Mutter musste dafür eben herhalten.

„Jetzt ist aber gut, Melanie. Was ist nur heute mit dir los? Du weißt genau, weswegen wir das tun mussten", wurde sie sogleich gemaßregelt.

Sicher wusste sie es. Doch musste ihr das gefallen? Würde ihre Mutter anders entscheiden, wenn sie wüsste, dass sie sich seit ihrem Eintritt in die Schule das ein oder andere Mal anhören musste, sie sei ein Krüppel? Wollte sie soweit gehen?

Nein, das wollte sie nicht, sonst hätte sie es ihren Eltern längst anvertraut. Sie sorgten sich ohnehin schon genug um sie.

Ihre Mutter rückte nun näher neben sie, trank einen Schluck Saft aus ihrem Glas und sagte, indem sie sich ihre Hand griff: „Schatz, wir haben dir nie gesagt, dass es leicht sein würde. Was aber hättest du an unserer Stelle getan, wenn du wüsstest, dass dein Kind herzkrank ist? Für uns ist das auch nicht leicht! Wie oft haben dein Vater und ich uns abends noch unterhalten und uns gefragt, ob es nicht besser wäre, dich privat unterrichten zu lassen. Doch du musst einsehen, dass du dann umso einsamer geworden wärst."

 

Melanie überlegte, wie es wäre. Sie und ein Privatlehrer im Haus ihrer Eltern, abgeschottet von anderen Gleichaltrigen? Sie musste zugeben, dass es nicht die Lösung ihres Problems gewesen wäre.

Sie sah ihre Mutter an, drückte ihre Hand und antwortete: „Du hast Recht, Mama! Ich hätte dann nicht einmal Jill, Danny und Lisa kennengelernt. Dennoch tut es weh, in den Augen der anderen Schüler ein Außenseiter zu sein."

„Ich habe dich für deine Stärke immer bewundert, mein Schatz, denn damit hast du auch uns gestärkt. Es sind doch nur noch drei Jahre, Kind! Dann hast du dein Abitur und dir stehen viele Türen für deinen beruflichen Werdegang offen."

Melanie lächelte. „Wobei ich mir immer noch nicht sicher bin, was ich werden möchte. Nur kein Lehrer, das steht jetzt fest!"

Sie umarmten sich, Melanie entschuldigte sich noch wegen den bösen Worten, ehe sie ihre Mutter das Mittagessen weiter kochen ließ und nach oben in ihr Zimmer ging.

Dort angekommen, zog sie sich um und fing mit ihren Hausaufgaben an. Trotz der Umstände, war sie eine gute Schülerin, das war sie ihren Eltern schuldig.

Seit dem Tag ihrer Geburt verging kein Tag, an dem sie sich nicht um das Leben ihrer Tochter sorgen mussten.

All ihre Hoffnungen steckten sie in die Ärzte, die ihnen damals versichert hatten, ihr Loch im Herzen könnte mit ihrem Wachstum zuwachsen. Das war nicht eingetroffen, da sie in den ersten vier Jahren kaum an Größe gewann, für ihr Alter sich sogar stets unterhalb der Wachstumskurve befand. Erst als sie fünf war, machte sie einen gewaltigen Schuss, was zur Folge hatte, dass zum einen das Loch im Herzen blieb, zum anderen, dass sie nicht den Kindergarten besuchen konnte.

Der einzige Trost für ihre Eltern war, dass das Loch nicht größer wurde. Trotzdem wurde ihnen von den Ärzten geraten, Melanie keinen Sport treiben zu lassen. Sie durfte nicht einmal, wie andere Kinder, auf dem Spielplatz toben.

Auch später in der Schule dufte sie weder an Wandertagen, noch am Schwimmunterricht oder am Turnen teilnehmen. Melanie fühlte sich deswegen nicht dazugehörig, was ihre Mitschüler sie auch spüren ließen.

Warum nahm sie es nicht so, wie es war? Immerhin hatte sie ihre drei Freundinnen und diese Freundschaft hielt schon 2 Jahre.

„Melanie, das Essen ist fertig", rief ihre Mutter von unten.

Melanie sprang sogleich auf und begab sich auf den Weg in die Küche. Ihr Magen knurrte schon seit einer Stunde und für Lasagne, die es heute gab, würde sie morden.

 

Niemand war zu sehen, außer ihnen beiden.

Sie setzte sich zu ihrer Mutter an den Tisch und fragte: „Wo sind Sandra und Lars? Und Benno habe ich auch noch nicht gesehen!"

Dass ihr Vater bei der Arbeit war und erst am Nachmittag nach Hause kommen würde, wusste sie. Ihre Geschwister und den Hund vermisste sie aber, denn sie erinnerte sich nicht, etwas gesagt bekommen zu haben.

„Sandra arbeitet heute zur Probe im Salon und Lars hat Benno auf eine Klassenwanderung mitgenommen", meinte ihre Mutter daraufhin.

„Warum weiß ich das nicht?"

„Ich habe selbst nicht mehr daran gedacht, Schatz. Lars musste mich heute Morgen daran erinnern und nur gut, dass ich noch genug im Kühlschrank hatte, um ihm ein ordentliches Lunchpaket mitzugeben."

Melanies ältere Schwester wollte Friseuse werden und war auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Lars, der Jüngste, besuchte die vierte Klasse.

Melanie hatte längst aufgegeben, sich darüber zu beschweren. Ihre Geschwister waren, im Gegensatz zu ihr, gesund und durften alles tun, was ihnen gefiel. Wenn es auch nur um so etwas Profanes ging, wie an einem Wandertag mitzuwirken. Benno war zwar ihr Hund, aber so hatte wenigstens er seinen Spaß. Dass Lars ihn mitnahm war gut, denn sie selbst konnte nie so mit ihm toben, wie ein junger Hund es benötigte.

„Das ist prima, umso mehr bleibt für mich übrig", antwortete sie ihrer Mutter daher mit einem neckischen Grinsen.

Zusammen aßen sie und unterhielten sich noch ein bisschen über die Schule und ihr Problem damit. Im Großen und Ganzen hatte Melanie nie Geheimnisse mit sich herumgetragen, bloß die erniedrigenden Worte ihrer Mitschüler behielt sie für sich.